Der König weint

Das Scheitern höfischer Macht-Rituale in Friedrich Schillers politischen Dramen

Von Peter-André AltRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter-André Alt

Zeremonien im Zeitalter des Absolutismus

Nach Norbert Elias erfüllen Zeremonien im Zeitalter des Absolutismus „Nutzfunktionen, Prestigefunktionen und Herrschafts- oder Staatsfunktionen“. Ihr Nutzen liegt in der Sicherung lebenspraktischer Abläufe zum Zweck der luxuriösen Erleichterung des fürstlichen Alltags, ihr Prestige in der gleichzeitigen Aufwertung von Regierungsamt und Dienst, ihre herrschaftsstabilisierende Dimension in der klaren Hierarchisierung, die sie durch Rituale festschreiben. Hinter diesen vordergründigen Funktionen erzeugen höfische Zeremonien jedoch ein symbolisches Kapital, das durch die doppelte Form einer rituellen Öffnung und Schließung politischer Bedeutungsfelder bezeichnet ist. Das Programm, das sie transportieren, zielt auf die Feier des Körpers des Herrschers, den die Zeremonie zeigt und zugleich verbirgt. In der zeremoniösen Inszenierung des Souveräns vollzieht sich eine sichtbare Ausstellung seiner singulären Position, daneben aber eine Auratisierung, die den Eindruck seiner letztendlichen Unzugänglichkeit suggeriert.

Zum Gegenstand der bühnenästhetischen Darstellung empfiehlt sich das Zeremoniell seit dem 17. Jahrhundert, weil es ein seinerseits theatralisches Element aristokratisch-feudaler Selbstorganisation im öffentlichen Handlungskontext des Hofes ist. Zugleich aber spendet der Hofritus dem Theater einen Fonds von Ausdrucks- und Spielmöglichkeiten, die nun – wie im Pariser Theater seit der Mitte des 18. Jahrhunderts – von sozialen Funktionsbindungen abgelöst und verselbständigt werden können. Im dritten Band der „Propyläen“ schildert Wilhelm von Humboldt 1799 seine französischen Theatereindrücke und lobt in diesem Zusammenhang an François-Joseph Talma, dem prominentesten Schauspieler der Epoche, die Bereitschaft zum artistischen Einsatz – den Transfer der höfischen Ästhetik in die reine Kunstform. Deutlich sichtbar ist für Humboldt, dass die Pariser Aufführungen von der aristokratischen Welt ein Moment der Stilisierung leihen, das auf der Bühne eine eigenständige Bedeutung jenseits sozialer Zwecke erfüllen darf. Die Frage, welches programmatische Gewicht dieses Moment der Autonomie in den theaterspezifischen Inszenierungen des Hofzeremoniells zufällt, ist dabei von außerordentlichem Interesse, weil sie das grundsätzliche Problem der Balance von gesellschaftlicher Symbolik und Kunst betrifft, die im höfischen Theater des Absolutismus noch relativ entspannt geregelt, nach 1789 aber zunehmenden Störeinflüssen ausgesetzt ist. Dass aus solchen Einflüssen eigene Formen der ästhetischen Inszenierung zeremoniellen Scheiterns erwachsen können, zeigt exemplarisch Friedrich Schillers theatralisches Spiel mit der Welt des aristokratischen Rituals.

„Don Karlos“ und die Auflösung der Zeremonie

Der spanische Hof, den Schiller im „Don Karlos“ auf die Bühne stellt, trägt die Züge einer ritualisierten Organisation reiner Formalität, in der Inhalte hinter durchgestalteten Ordnungsstrukturen verschwinden. Der „Etikette bange Scheidewand“, die der Infant Karlos beklagt, regelt das Leben in Madrid ebenso wie in Aranjuez. Äußerlich spiegelt sich darin die symbolische Ausbildung von Tugenden, die durch den sozialen Status bezeichnet sind. Das „Hofamt“ zu verrichten, bildet eine Ehre, die nach „Rang“ vergeben wird, wie der König seiner Gemahlin Elisabeth von Valois in Erinnerung ruft. Das rituelle Moment des Dienstes erfüllt dabei den Zweck, die stratifizierte Ordnung am Hof zu bekräftigen – jene Stufung repräsentativer Aufgaben, die bekanntlich im französischen Absolutismus unter Ludwig XIV. ihre extremste Steigerung erfuhr. Über die Funktion der im Ritus vollzogenen Sicherung von Hierarchien heißt es bei Norbert Elias: „Was diesen Akten ihre große, ernsthafte und schwerwiegende Bedeutung gab, war ausschließlich die Geltung, die sie den an ihnen Beteiligten innerhalb der höfischen Gesellschaft vermittelten, die relative Machtposition, der Rang und die Würde, die sie zum Ausdruck brachten.“

Die „Hofhaltung der Königin“ repräsentiert eine Phalanx, die auch persönliche Interessen nicht durchbrechen können. Die beredte Klage Elisabeths, dass sogar die Stunden, da sie Mutter sein darf, dem Regelement der Etikette unterworfen sind, geht folgerichtig ins Leere, weil sie das strukturelle Muster der höfischen Ordnung nicht erfasst – die Tatsache, dass Privates hier nur in symbolischer Form, als, nach einem Wort Kants, „Gedankending, ohne alle Realität“ erscheinen darf. Wenn die Königin Philipp in einem förmlichen Audienzersuchen „um gnädigstes Gehör“ bittet, so erregt das allein deshalb das Befremden des Herrschers, weil die „Stunde“ dafür nicht die rechte ist. In seiner „Geschichte der französischen Unruhen“ aus der „Allgemeinen Sammlung historischer Memoires“ hat Schiller 1792 die Hofhaltung Katharinas von Medici, der Mutter Elisabeths, als leichtsinnig, unkonventionell und libertinär charakterisiert („mit dem Putze der Ahnen lernte man nur zu bald ihre Schamhaftigkeit und Tugend ablegen“); im „Don Karlos“ stellt er die Medici-Tochter Elisabeth von Valois dagegen als Vertreterin eines die Rechte der Menschlichkeit gegen die leere Formalität des Zeremoniells einfordernden Freiheitsanspruchs dar, der die repressiven Züge der spanischen Etikette sichtbar macht. Wie stark deren Ideal wiederum vom Gebot der absoluten Affektkontrolle bestimmt ist, zeigt die siebente Szene des dritten Akts, in der Admiral Medina Sidonia im Rahmen einer offiziellen Audienz den Untergang der Armada meldet, ohne dass der König Zeichen sichtbarer Erschütterung zeigt. Lediglich sein langes Schweigen deutet an, wie tief ihn dieser Verlust trifft; sein Verhalten aber verrät Großmut und Affektdisziplinierung, wenn er den Admiral mit einem gnomischen Hinweis auf die Unbeherrschbarkeit der Natur gnädig entlässt („Ich habe gegen Menschen | nicht gegen Sturm und Klippen sie gesendet.“).

Je weiter Schillers Drama fortschreitet, desto häufiger kommt es zu Störungen der in der Zeremonie und im Hofritual bezeichneten Ordnung. Sie offenbaren die fehlende Balance menschlicher Affekte, hinter der zugleich politische Erosionen sichtbar werden. Wenn der König nach Bekanntwerden des Verrats, den Marquis Posa gegen ihn verübte, „weint“, so ist das, wie Pater Domingo erklärt, „teuflisch“, weil die in der Etikette vorgeschriebene Disziplinierung der Leidenschaften nicht mehr gelingt. Dass der Herrscher dort, wo er sich menschlich zeigt, schwach ist, bestätigt auf perfide Weise die innere Logik des politischen Systems, das Philipp in der ersten Audienzszene gegenüber Karlos‘ Forderung nach Humanität noch entschieden verteidigt. „Vollends Thränen? – Unwürd‘ger Anblick – Geh aus meinen Augen.“ – mit dieser Reaktion hatte der Vater die heftigen Affektregungen des Sohnes kommentiert; jetzt gerät er selbst zum Opfer jener Empfindungen, die die Ordnung der Macht sprengen wie ein Stolpern die Choreographie. Thomas Manns Tonio Kröger wird gegenüber seinem verständnislosen Freund Hans Hansen bekennen, dass ihn diese Szene besonders ergriffen habe.

Das Weinen des Herrschers ist eine Äußerung von Emotionen, die in scharfem Gegensatz zur symbolischen Organisation der Zeremonie steht. Das Nichtgeplante, Eruptive und Authentische bezeichnet eine Kontrafaktur der more geometrico fixierten Ordnung des zeremoniösen Aktes. Wo die Zeremonie allein den politischen Körper zeigt, dokumentieren Affekte einzig seinen natürlichen. Wenn beide Bereiche nicht streng genug getrennt werden, droht eine Gefährdung der souveränen Herrschergewalt. Die politische Wirkung der im Weinen des Regenten sichtbaren Schwäche wird von Schiller mit großer Konsequenz in zwei prägnanten Szenen vor Augen geführt: in der offenen Erhebung des Sohns gegen den Vater und in Philipps nachfolgendem Ohnmachtsanfall. Das Schwert, das Karlos gegen Philipp zieht, ist das sichtbare Zeichen der Insurbordination – einer prominenten Haltung Schillerscher Helden von Karl Moor bis Wilhelm Tell. Die Geste der Rebellion – „König entdekt eine Rebellion seines Sohnes“, vermerkt schon der Bauerbacher Entwurf vom Frühjahr 1783 – bildet das Vorspiel für die fortschreitende Dezentrierung herrscherlicher Autorität. Die Ohnmacht, die Philipp im fünften Auftritt des fünften Akts erleidet, markiert einen fortgeschrittenen Punkt im Verlauf dieses Prozesses. Das körperliche Symptom offenbart in einem unmittelbaren Sinn, was der König zuvor bereits ausgesprochen hat: „Dorthin! | Dort werft euch nieder! Vor dem blühenden, | dem jungen König werft euch nieder – Ich | bin nichts mehr – ein ohnmächt‘ger Greis!“

Wenn der König seine Untergebenen auffordert, dem Infanten an seiner Stelle die Huld zu erweisen, beschreibt er eine Situation der Entmachtung, die durch seinen körperlichen Zusammenbruch unmittelbar danach faktisch eintritt: „Bekleidet ihn mit dem königlichen Schmuck – Auf meiner | zertretnen Leiche tragt ihn -“. Die Regieanweisung fügt hinzu: „Er bleibt ohnmächtig in Alba’s und Lerma’s Armen.“ Der Ohnmachtsanfall des Herrschers repräsentiert eine für Schillers Dramentechnik typische Szene. Gezeigt wird eine Kontrafaktur des Rituals, in der Ordnung durch Chaos, Planbarkeit durch Plötzlichkeit und Steuerung durch Überwältigung ersetzt werden. Es versteht sich, dass die Szene ihre symbolische Bedeutung für den Fortgang der Handlung besitzt; der ohnmächtige Herrscher ist ein Sinnbild des Verfalls jener Autorität, die der Souverän gerade in Momenten der Krise an den Tag zu legen hat. Die gesamte Sequenz beleuchtet nicht nur eine Form der Anti-Zeremonie, in der Unvorhersehbares an den Platz des genau strukturierten Dramaturgie tritt. Gemäß der Logik der frühneuzeitlichen Körperschaftslehre, die bis zum Ende des ancien régime die öffentliche Schaustellung von Souveränität beeinflusst hat, bezeichnet sie zudem eine faktische Bedrohung der im Regenten repräsentierten Macht des Staates. Da der Herrscher, wie Bossuet in seiner „Politique“ (1709) darlegt, mit seinem gesamten Körper die Einheit des Staates umfasst, impliziert seine physische Ohnmacht eine bedrohliche Einschränkung der politischen Kraft des Reiches.

Wenn Philipp am Ende den Großinquisitor um politischen Rat ersucht, so besiegelt diese Szene konsequent die Auflösung der Ritualisierung herrscherlicher Macht. Der König selbst ist es, der hier um Audienz bittet; zum Opfer der Auslieferung an die Inquisition wird nicht nur Karlos, sondern auch Philipp, wenn er seine Macht an die Autorität der Kirche abtritt („Ich lege mein Richteramt in Ihre Hände“). Die Sequenz erweist sich in einem sehr spezifischen Sinn als Ritual, als Wiederholung früherer Audienzen; so erklärt der König: „Ich erneure einen Auftritt | vergangner Jahre. Philipp der Infant | holt Rath bei seinem Lehrer.“ Gerade diese ‚Erneuerung‘ des alten Zeremoniells bedeutet aber eine Kontrafaktur, denn Philipp ist nicht mehr Infant, sondern Souverän. Der König, der wie ein Kind beim Großinquisitor Rat sucht, hat sich selbst der Autorität begeben, die ihm qua Amt zufällt. Die zeremoniöse Inszenierung, die das Drama am Ende vorführt, wird zur Demonstration der Entmächtigung des Herrschers.

Franz Grillparzer, der ein guter Schiller-Kenner war, zeigt in seinem Trauerspiel „König Ottokars Glück und Ende“ (1825) eine ähnliche Szene des Machtverlusts, die durch die Verkehrung des Rituals ermöglicht wird. Ottokar, der König Böhmens, erhält aus der Hand des Kaisers Rudolf von Habsburg das Lehen, wobei er vor ihm niederkniet. Genau in diesem Moment reißt sein heimlicher Gegenspieler Zawisch den Vorhang, der die Situation verhüllt, zur Seite. Sein kompromittierender Ausruf „Der König kniet“, den das böhmische Gefolge chorartig wiederholt, trägt ähnlichen Charakter wie bei Schiller das ominöse „Der König hat geweint“. Ottokar, dessen Thronehrgeiz ins Unermessliche zu wachsen droht, unterwirft sich in einem umgekehrten Ritual Rudolf, um das Lehen von ihm zu empfangen. Seine Autorität wird in dieser Szene konterkariert durch die öffentliche Schaustellung seines Kniens – eine Geste, die Kaiser Joseph II. übrigens 1787 durch offizielles Dekret aus dem Wiener Hofzeremoniell verbannen ließ. Empört über die Indiskretion Zawischs, wirft Ottokar am Ende den Mantel wie die Krone ab und verlässt mit raschen Schritten die Szene. Das Fallen des Mantels und das Niederreißen der Krone symbolisieren die Bewegungsformen des Sturzes, der im missglückten Ritual schon vorweggenommen ist. Die Kontrafaktur des höfischen Zeremoniells, wie sie Schillers „Don Karlos“ zeigt, finden bei Grillparzer ihre drastische Fortsetzung. Die Verleihung des Lehens an Ottokar ist im Grunde ein Abdankungsritus, der in der Geste der Unterwerfung zu seinem Höhepunkt kommt – darin gleicht er der Dialektik von geheimer Ohnmacht und prätendierter Macht, die Schillers Drama vor Augen führt.

„Maria Stuart“ und die Verkehrung der Zeremonie

Spezifische Formen eines Abdankungsrituals zeigt auch Schillers „Maria Stuart“, jedoch lanciert über Techniken indirekter Darstellung, in Modellen einer vermittelten Theatralität. Marias letzte Beichte und das Abendmahl der Titelheldin werden zum Gegenstand einer Inszenierung, die Machtlosigkeit symbolisiert und zugleich moralische Würde reflektiert. Marias Hinrichtung findet sich dagegen nur indirekt über das Medium des Botenberichts geschildert, erreicht freilich darin eine besondere dramaturgische Effektivität. Beide Sequenzen siedeln sich im Schlussakt der Tragödie an und bilden markante Punkte auf der abschüssigen Bahn, die Maria durchläuft. An ihnen wird der Weg der politischen Entmächtigung der Protagonistin sichtbar, den Schiller – Topoi des barocken Theaters wiederholend – im Prozess moralischer Ermächtigung antithetisch spiegelt.

Schillers Tragödie offenbart Formen ritueller Ordnung, in denen das Moment des Politischen zunächst in den Hintergrund tritt, jedoch als Bezugsfeld stets mitzudenken ist. Das erste Beispiel für eine solche Konstellation bildet der Beichtritus, dem sich Maria im letzten Akt gegenüber ihrem Vertrauten Melvil kurz vor der Hinrichtung unterzieht. Schiller zeigt zunächst die einzelnen Funktionen, die den Ritus im Sinne der katholischen Tradition gliedern: Melvil schlägt das Kreuz über der Delinquentin, nimmt das Eingeständnis ihrer irdischen Schuld entgegen, segnet sie, reicht ihr die Hostie, weiht den Weinkelch mit stillem Gebet und setzt ihn ihr an die Lippen. Der Ritus geht im theatralischen Raum der Bühne vonstatten, ohne dass Schiller ihn verändert; jedoch ist er durch seine Einbettung in die dramatische Handlung selbst Gegenstand einer ästhetischen Inszenierung geworden. Dass der Weimarer Superintendent Herder im Juni 1800 aus Anlass der bevorstehenden Premiere beim Herzog intervenierte, um sein Veto gegen die Aufführung der Beichtszene vorzutragen, belegt den provozierenden Charakter der gesamten Sequenz. „Der kühne Gedanke eine Communion aufs Theater zu bringen, ist schon ruchbar geworden“, so schreibt Goethe an Schiller, „und ich werde veranlaßt Sie zu ersuchen die Function zu umgehen.“ Die Ästhetisierung des heiligen Ritus implizierte aus christlicher Perspektive zugleich eine Depotenzierung der sakralen Bedeutung, die im Abendmahl bezeichnet ist.

Auf Melvils Frage, ob sie „vor dem Gott der Wahrheit“ ihre Schuld gestehen wolle, antwortet Maria: „Mein Herz liegt offen da vor dir und ihm.“ Die letzte Instanz, vor der die abgesetzte, gefangene und zum Tod verurteilte Königin sich zu rechtfertigen hat, ist der Herrscher im Himmel. Das Ritual vollzieht sich damit als Form einer Symbolisierung politischer Entmächtigung, als Veranschaulichung einer prinzipiellen Relativierung weltlicher Souveränität im Angesicht der letzten Dinge. „Gunst“ und „Recht“, die beiden Privilegien, die ihr Elisabeth willkürlich entzog, gewinnt Maria durch den Papst, Gottes irdischen Stellvertreter, zurück, wie Melvil ihr erklärt. Damit wird die Stunde ihres Todes zum Augenblick einer spirituellen restitutio in integrum, die der Logik der Märtyrertragödie korrespondiert. Die religiöse Zeremonie erhöht den Leib, dessen Zerstörung in der Exekution beschlossene Sache ist, indem sie ihm das Recht auf Würde verschafft, die – in Übereinstimmung mit Schillers Tragödientheorie der kantischen Periode – durch die Möglichkeit der moralischen Independenz gegeben ist. Maria kniet in der gesamten Beichtszene vor Melvil, so wie sie im Hinrichtungsritus vor dem Henker knien wird. Schillers kunstvolles szenisches Arrangement kontrastiert Leib und Ewigkeit, politischen Machtverlust und moralisch-geistliche Ermächtigung in einem Spiel des Ritus, der die Zumutung des Todesurteils in der verklärenden Erhöhung der Märtyrerin auslöscht.

In Übereinstimmung mit dem aristotelischen Grässlichkeitsverdikt zeigt Schiller uns Marias Hinrichtung in der elften Szene des Schlussakts nicht direkt, sondern nur über einen Botenbericht vermittelt. Leicester, dessen halbherzige Rettungsmanöver gescheitert sind, wird hier zum Ohrenzeugen der Exekution, nachdem Maria von Burleigh und dem Sheriff vor seinen Augen zum Schafott geführt worden ist. Das Vorbild für Leicesters Bericht fand Schiller in William Robertsons „History of Scotland“ (1759), dessen 1762 erschienene deutsche Übersetzung er schon im Winter 1782/83 in Bauerbach gelesen hatte. Robertson beschrieb nicht ohne literarischen Wirkungsanspruch, wie sich Maria Stuart entkleiden lassen musste, ehe sie ihr Haupt auf den Richtblock legte. Schiller greift die Detailangaben seines Quellenautors auf, wenn er Leicester vor der verschlossenen Tür stehend, die ihn vom Schauplatz der Hinrichtung trennt, allein auf akustische Eindrücke gestützt schildern lässt, was sich dem Auge des Zuschauers entzieht. Gerade diese Dramaturgie des Entzugs erweist sich als literarisch höchst effektiv, denn sie löst das umgekehrte Ritual der Devestitur im Medium des Berichts in eine Serie von prägnanten Einzelmomenten auf: „Laut betet sie – | Mit fester Stimme – Es wird still – Ganz still! | Nur schluchzen hör ich, und die Weiber weinen – | Sie wird entkleidet – Horch! Der Schemel wird | Gerückt – Sie kniet aufs Kissen – legt das Haupt -“. Die Steigerungsbewegung der Rede bleibt auf die Form des Rapports beschränkt und damit jenseits des Theaters angesiedelt. Was diese Form der Schilderung zum Ausdruck bringt, entspricht der Umkehrung des höfischen Zeremoniells, die in der Devestitur Marias vonstatten geht; an den Platz der Macht tritt der Tod, an die Stelle der Bühnenhandlung die Erzählung.

Die Devestitur der Königin bezeichnet das Gegenbild zur Investitur, die Hinrichtung die Kontrafaktur zur Einsetzung der Herrscherin. Der Akt der Devestitur galt seit dem Spätmittelalter als juristisch verbindlicher Vorgang, in dessen Verlauf der Würdenträger seine Machtinsignien niederlegen musste. Das ursprünglich aus dem Kirchenrecht stammende und allein auf die Funktionsenthebung von Klerikern bezogene Verfahren der degradatio actualis übertrug man, wie wir durch die Forschungen Walter Paters wissen, seit dem 15. Jahrhundert auch auf den politischen Bereich. Die großen Abdankungsdramen der elisabethanischen Ära – Marlowes Edward II (1594) und Shakespeares Richard II (1597) – greifen diese Bedeutung auf, wenn sie das Ablegen die Krone und das Abtreten der kostbaren Kleidung als verkehrten Ritus inszenieren. Bei Marlowe pervertiert der resignierende Herrscher den Inthronisationssakt, indem er die Krone im Wechsel auf- und wieder absetzt, um zu demonstrieren, dass er den ‚vergänglichen Prunk der Macht („this transitory pomp“) für nichtig hält. Shakespeares Richard wiederum erklärt: „For I have given here my soul’s consent | T‘ undeck the pompous body of a king; | Made glory base and sovereignty a slave, | Proud majesty a subject, state a peasant.“ Wo der politische Körper des Königs nur noch ein Zeichen für leeren Prunk ist, kann auch die Zeremonie, in der er sich einkleidet, nicht mehr als symbolisch bedeutender Vorgang gewertet werden. In Schillers Text offenbart Leicesters Schilderung denselben Doppelsinn der Devestitur, wenn er ihre Bedeutung als Akt der inhaltlichen und formellen Entleerung eines Herrschaftsrituals im Medium der nicht-theatralischen Berichtsform ausweist.

Gerade die Degradierung der Königin deutet auf den eigentlichen historischen Referenzpunkt, den Schillers Trauerspiel anpeilt: die Beziehung zwischen dem Schicksal Marie Antoinettes und dem Untergang Maria Stuarts. Klare Parallelen offenbart zumal die Vorgeschichte, bezichtigte man doch die schottische wie die französische Königin öffentlich eines unsittlichen Lebenswandels, der indirekten Beteiligung an Verbrechen und Betrug ebenso wie des Hochmuts und der Maßlosigkeit. Schillers Drama zeigt in der durch Leicesters Mauerschau vermittelten Devestitur die historische Parallele zwischen Maria Stuart und Marie Antoinette sehr deutlich, denn auch die französische Königin wurde ihrer Machtinsignien entkleidet und, wie man dem zeitgenössischen Bericht des „Moniteur universel“ vom 27. Oktober 1793 entnehmen konnte, einer gewöhnlichen Verbrecherin gleich zur Hinrichtung gefahren. Walter Pater hat im Hinblick auf die Devestitur von einem ‚invertierten Ritus‘ gesprochen, dessen symbolischer Gehalt die formale wie inhaltliche Umkehrung des ursprünglichen Akts bedeute. Eben diese Dimension macht Schillers Text geltend, indem er die Symbolik der Entkleidung und Hinrichtung als verkehrtes Ritual zeigt. Die Kontrafaktur ist auf zwei Ebenen angesiedelt; zum einen bezeichnet die Entkleidung eine Inversion der Investitur, zum andere markiert die szenische Unsichtbarkeit des im Medium der Teichoskopie übermittelten Degradierung eine Aufhebung der Theatralität des Einsetzungsritus. Leicesters eindrücklicher Bericht substituiert die Bühne als Raum der rituellen Prachtentfaltung und stellt an seinen Platz das einfache Wort, das die Einbildungskraft in Bewegung zu bringen hat. Indem er die bühnenästhetische Dimension der Szene aufhebt, findet er die angemessene Form für einen Akt, der als umgekehrter – invertierter – Ritus der Herrschaftsimplementierung gelten kann.

Die Französische Revolution, auf deren Hinrichtungsverfahren die Schilderung der Szene V,10 Bezug nimmt, inszenierte bekanntlich nicht nur Ikonoklasmen, sondern auch Kontrafakturen, Umschichtungen von Bildformen und Symbolen. August von Kotzebues Komödie „Der weibliche Jakobiner-Klubb“ (1792), zeigt diese Tendenz im Licht der historischen Situation kurz nach der Flucht Ludwigs XVI. im Juni 1791. Die Revolution ist bereits in eine Phase der offenen Angriffe auf das Königtum übergegangen, zu denen auch das aggressive Spiel mit höfischen Ritualen gehört. So begegnet der Marquis de Rozieres auf der Straße einer „Deputation von Fischweibern, die zum Könige geht, um seinen Hofstaat glänzender zu machen“. Dass andererseits auch die Jakobiner ihren Bilderkult pflegen, zeigt eine Szene, in der die Revolutionssympathisantin Madame Duport und ihre Freundinnen den Salon gleichzeitig mit Wachsbildern feuriger Barrikadenkämpfer und dekadenter Aristokraten schmücken. Den Karikaturen begegnen die Damen mit ritualisierten Schmähungen, ohne zu bemerken, dass sich der Marquis als falsche Wachsfigur in den Salon geschlichen hat, um die politische Runde als Spion zu belauschen. Der Aristokrat erscheint so als im Theater-Tabelau inszenierter Sündenbock, der bei Kotzebue noch die Oberhand über die ungebildeten Kleinbürgerinnen behält. Das am Ende in ein harmloses Liebes-Finale gleitende Geschehen der Komödie deutet gleichwohl an, dass hier eine Politik der Ausgrenzung im Gang ist, die bedrohliche Züge annehmen könnte – nur wenige Monate nach der Publikation von Kotzebues Drama, am 13. November 1792, wird Saint Just den König vor der Nationalversammlung als ‚fremden Feind‘ („un ennemi étranger“) ohne eigene juristische Ansprüche bezeichnen und im Namen des Vaterlands das Todesurteil gegen ihn beantragen.

Ähnlich wie Kotzebue im Rahmen seiner halbherzigen Jakobiner-Satire beleuchtet Schiller in der Exekutionsschilderung Leicesters ein verkehrtes Ritual. Die Kontrafaktur von Investitur und Inthronisation, die sich hier vollzieht, zielt dabei offenkundig auf den aktuellen Zeitbezug, die politische Situation nach der Hinrichtung Ludwigs XVI. Die Revolution, so formulierte Fichte 1793, sei „ein reiches Gemälde über den großen Text: Menschenrecht und Menschenwert.“ Fichtes Metaphorik bezeichnet einen Vorgang, in dem das historische Geschehen zum Bild wird, dessen Einzelmotive der Interpret selbst zu einer Textur zusammensetzen muss. Als Bild ist die Geschichte auch in Schillers Drama nicht dynamisches Kontinuum, sondern Folge von Zeichen, die sich im Tableau verdichten. Dieser Struktur korrespondiert die Schilderung der Hinrichtung, die den Ereignissinn der Geschichte in der ästhetischen Struktur – über die Beschreibung kontrafaktischer Zeremonien – ins Bild bannt. Indem Schiller die narrative Darstellung im entscheidenden Moment des Trauerspiels an den Platz des Theaters setzt, findet er eine doppelte Form, in der er dem aristotelischen Grässlichkeitsverdikt ebenso Rechnung trägt wie der Dialektik einer Entmächtigungszeremonie, die Pracht durch moralische Würde substituiert. Das gesprochene Wort jenseits des Ritus war das angemessenste Medium, das diesen unerhörten Vorgang reflektieren konnte.

„Die Jungfrau von Orleans“ und die Verbergung der Zeremonie

Schiller „romantische Tragödie“ zeigt uns nach dem Vorspiel in Domrémy das Hoflager des Königs König Karl VII. in Chinon. Der König sitzt auf dem Thron, aber er ist doch eigentlich abwesend. Dunois bezeichnet den Herrscher schon in den ersten Versen der Szene als „unrühmlich“, weil er „sich selbst verläßt.“ Karl ist keineswegs der König, der – gemäß der in Frankreich seit dem Tod Franz I. (1547) eingeführten Formel – im Sinne der Kontinuität der Dynastie niemals stirbt („Le roi ne meurt jamais“). Ihm fehlt der politische Körper, der die Dauer seines Amtes verbürgt, denn Frankreich ist zerrissen und seine Autorität in Gefahr. Er sei ein „Fürst der Liebe“, so erklärt Karl, jedoch als König ohne wirkliches Reich im Moment der drohenden militärischen Niederlage gegen die Engländer politisch überfordert: „Ich hätt ein friedliches Volk beglücken können“. Nicht mit den Unbillen des Krieges, sondern allein mit den Künsten der Troubadours zeigt er sich beschäftigt: „Edle Sänger dürfen | Nicht ungeehrt von meinem Hofe ziehn. | Sie machen uns den dürren Zepter blühn, | Sie flechten den unsterblich grünen Zweig | Des Lebens in die unfruchtbare Krone (…)“. Die Krone Karls ist ‚unfruchtbar‘, weil sie keine wirkliche Macht symbolisiert. An die Stelle der Herrschergegenwart, die sich im Körper des Königs zu manifestieren hat, tritt die Scheinwelt einer Kunst, die den Mangel politischer Souveränität substituieren soll. Karls Rolle steht a priori im Bann einer rein ästhetischen Selbstinszenierung, die nur den Anschein der Macht suggeriert, ohne sie wirklich zu zeigen.

Seine politischen Optionen stellt Karl, den Schiller als ebenso kunstsinnigen wie frommen König präsentiert, von Beginn an unter das Diktat der Vorsehung. Fatalistisch konstatiert er, dass Gott gegen ihn und mit den Engländern sei. Die „schwere Hand des Himmels“, so erklärt er, liege über ihm und zerstöre alles, was sein Heer beginne. Der Rückzug bleibt die folgerichtige Konsequenz, die er aus dieser Einsicht ableitet: „Ist denn die Krone ein so einzig Gut? Ist es so bitter schwer, davon zu scheiden?“ Wie Karl hier im Zeichen schwermütiger Stimmung vom Verzicht spricht, so packt ihn nach der Begegnung mit Johanna der Enthusiasmus. In beiden Fällen ist es die Intuition, die den König lenkt. „Entscheide du, ob Krieg sei oder Friede“, ruft er Johanna in typischer Zögerlichkeit zu. Noch in dem Moment, da Karl, durch Johannas Hilfe, zum Monarchen aller Franzosen gekrönt wird, zeigt Schiller die innere Ambivalenz eines Herrschers, dessen Macht ein geliehenes, der Vorsehung zugeschriebenes, aber doch gleichsam zufällig gewonnenes Gut ist. Auch die poetische Überhöhung der Geschichte zum Mythos, mit der Schiller hier – darin dem Geschichtsbild des „Heinrich von Ofterdingen“ seines Schülers Novalis vergleichbar – zumindest spielt, kann an diesem Umstand nichts ändern. Der wunderbar-märchenhafte Weg, auf dem Johanna Karl zur Krönung führt, bleibt, weil er rational nicht erklärbar ist, ein heteronomes Moment im romantischen Theater, das hier in Szene gesetzt wird.

Im vierten Akt führt Schiller die Peripetie der Ereignisse vor, indem er Karls Inthronisation in Reims und Johannas Entmachtung als äußerlich entgegengesetzte, faktisch jedoch einander ergänzende Momente der Handlung präsentiert. Vom Ritus der Herrschereinsetzung erfahren die Zuschauer nur indirekt; die sechste Szene beschreibt die majestätische Prozession der Marschälle, Herzöge, Ordensritter und Hellebarden, denen der von Baronen auf einem Thronsessel getragene Regent folgt. Der eigentliche Krönungsakt in der Kathedrale wird szenisch nicht vorgeführt; den König präsentiert das Drama erst nach dem Ende des Ritus im Augenblick, da er die Kirche verlässt. Er hält eine kurze Ansprache an seine Untertanen, in denen er seine Dankbarkeit gegenüber Gott und der Vorsehung bekundet, wendet sich Johanna zu und erweist ihr seine Reverenz. Während die Krönung Karls ähnlich wie Marias Exekution hinter der Bühne stattfindet, vollzieht sich nun vor der Kathedrale jenseits der Zone des Rituals nach der Machteinsetzung der eigentliche Umschwung: Johannas Anklage durch den Vater, ihr Verstummen und die unheimlichen Donnerschläge, die ihr Verhör begleiten, bilden vermeintlich ein Gegenstück zur Krönung des Königs. In barock anmutender Antithetik scheint Schiller hier Macht und Ohnmacht, Aufstieg und Sturz einander zu kontrastieren. Bei genauerer Betrachtung lässt sich aber erkennen, dass das eine mit dem anderen aufs engste verbunden ist. Karl hatte deutlich erklärt, er sei sich der Unterstützung durch die in der Jungfrau gesandte göttliche Macht bewusst („Du kommst als Priesterin, Johanna, | Den Bund, den du gestiftest, einzuweihn?“). Wenn die Protagonistin jetzt, unter den massiven Vorwürfen ihres Vaters verstummend, von der himmlischen zur teuflischen Botin wird („Du bist gerettet durch des Teufels Kunst“, erklärt Thibaut dem König), dann offenbart das eine neue Sicht auch auf die Krönung Karls. Deren Voraussetzungen rücken nun ins Zwielicht, gemäß Hegels abfälligem Diktum, Jeanne d‘Arc habe einzig im Bann einer magnetisch induzierten „Exaltation“ gehandelt; sofern Johannas Tun durch Zauberwerk befördert wurde, kann die Macht des Königs nicht unter dem Segen Gottes stehen. Die Opulenz des Krönungszeremoniells tritt damit in die Dämmerzone der Ambivalenz, ins Spannungsfeld eines zwischen Missionseifer, Hybris und Pathologisierung angesiedelten Handlungsprofils. Dass die göttliche Seite der Sendung Johannas ebenso wenig ‚objektiv‘ sein kann wie ihre teuflische, bleibt zweitrangig. Entscheidend ist, dass Schillers Tragödie die Inthronisation des Herrschers zu einem problematischen Akt werden lässt, indem sie Krönung und Aberglaube, Machtgegenwart und Magievorwurf verbindet. Der Ritus, den das Drama nicht mehr zeigt, offenbart sich als Ereignis, dessen symbolischer Gehalt widersprüchliche Züge angenommen hat.

Während die Zeremonie im ancien régime, mit Barbara Stollberg-Rilinger, der „Logik einer Präsenzkultur“ unterliegt, zeigt sich in Schillers ‚romantischer Tragödie‘ gerade deren Kontrafaktur; die Macht ist hier abwesend und auch durch Rituale nicht auf die Bühne zurückzurufen. Die höfischen Zeremenonien des Absolutismus vollziehen Kommunikationsakte, die Herrschaftsgegenwart mit symbolischen Mitteln vor Augen führen. Schillers „Jungfrau von Orleans“ liefert dagegen eine Krönungsszene, die im Zeichen der Abwesenheit steht; der König, der den Mittelpunkt des Ritus bildet, tritt erst auf die Bühne, nachdem er schon gekrönt worden ist. Was hier theatralisch präsentiert wird, scheint ein Spiel zu sein, das den Zerfall der politischen Ordnung spiegelt, die sich am Vorabend der Französischen Revolution vollzieht. Schillers gleichsam aus der Hinteransicht aufgeführte Krönungsszene fungiert folglich nicht als Feier der Herrschaftsgegenwart, die in den fiktionalen Elementen des Rituals aufgehoben wäre, sondern als Reflexion der Krise des ancien régime, die sich in der Entleerung seiner Zeremonien vollzieht. Als Joseph II. am 3. April 1764 im Frankfurter Römer die Kaiserwürde empfing, bediente man an der großen Tafel, die den Höhepunkt des Festaktes darstellte, auch diejenigen Reichsfürsten, die der Zeremonie ferngeblieben waren oder sich bereits zurückgezogen hatten, indem man an ihren leeren Plätzen Speisen und Getränke servierte. Goethe, der als Vierzehnjähriger Augenzeuge des Krönungsspektakels wurde, betont rückblickend in „Dichtung und Wahrheit“, dass diese Seite der Zeremonie, deren einzelne Schritte er als „überlegtes Kunstwerk“ mit einem ‚romantischen‘ Grundzug beschreibt, für ihn ein „gespensterhaftes Ansehn“ erhalten habe.

Als Schiller im Mai 1804 Berlin besuchte, fand er auch Gelegenheit, Ifflands Inszenierung der „Jungfrau von Orleans“ zu sehen, die ein Jahr zuvor am Königlichen Nationaltheater am Gendarmenmarkt Premiere hatte. Die Aufführung, die durch gewaltige Opulenz geprägt war, brachte im Krönungsakt, dessen Höhepunkt die Szene IV,6 bildet, 200 Komparsen auf die Bühne. Den Autor vermochte solche theatralische Wucht allerdings nicht zu erbauen; gegenüber der Schauspielerin Friederike Unzelmann äußerte Schiller, dass Ifflands Neigung zum Opernhaften den eigentlichen dramatischen Konflikt der „inneren Anschauung“ entziehe und die freie Tätigkeit der Imagination letzthin behindere. Diese kritische Bemerkung hat ihre Schlüssigkeit, wenn man bedenkt, dass es in der „Jungfrau von Orleans“ um die ästhetische Darstellung eines Scheiterns der Zeremonie, nicht um deren öffentliche Ostentation im Glanz der Bühne ging. Wenn das Theater das Ritual durch ästhetische Präsenz restituiert, erzeugt es dort eine neue Form der Fülle, wo Leere geboten wäre. Das Spiel der Bühne, das Schillers „Jungfrau“ zeigt, ist ein Spiel der Herrschaftsabwesenheit, das zur Allegorie wird, in der sich der Untergang des alten Staates abzeichnet. Nicht die Krönung, sondern die Abdankung des Königs wird hier verhandelt; nicht sein Auftritt, sondern sein Verschwinden steht im Mittelpunkt des vierten Aktes, den Schiller uns präsentiert. Am 6. August 1806, nur fünf Jahre nach der Leipziger Uraufführung der „Jungfrau von Orleans“, brach das Heilige Römische Reich Deutscher Nation zusammen. Eine Zeremonie, die diesen Vorgang darstellte, gab es nicht; anders als im Mittellalter fand „kein Umkehrritual, keine solenne Devestitur, kein performativer Akt der Abdankung statt“ (Barbara Stollberg-Rilinger). Den Untergang der alten Ordnung zu inszenieren hatte das Theater übernommen – in Schaustücken, die Herrschaftsgegenwart nur noch in dekonstruierter Form über ihre Widersprüche, Zufälligkeiten und Brüche zeigten.

Resümee

Schillers Dramen führen uns verschiedene Versionen zeremoniellen Handelns vor, die jeweils das Scheitern von Techniken der symbolischen Ordnungsrepräsentation dokumentieren. Im „Karlos“ werden wir der Auflösung personaler Macht, der Dekomposition des Herrscherkörpers und der Dissoziation politischer Autorität gewärtig. In der „Maria Stuart“ bleibt vom höfischen Zeremoniell nur noch ein Bericht über die Exekution; das blutige Ritual des Tötens ersetzt die symbolische Überwältigungsinszenierung des absolutistischen Krönungsritus, indem sie dessen Dramaturgie umkehrt. In der „Jungfrau von Orleans“ wiederum ist der Körper des Königs endgültig entpolitisiert und die Zeremonie seiner Selbstdarstellung einzig ein ästhetisches Schauspiel ohne programmatische Referenz. Das Theater bildet jeweils den Raum, in dem solche Praktiken der Entleerung des Rituellen sich vollziehen – lanciert über die Zerstörung seiner inneren Ordnung oder über die Verweigerung der Zeremonie selbst, die dem Blick des Zuschauers entzogen und dadurch entwertet werden kann.

Weil Politik im Absolutismus immer auch ästhetische Selbstinszenierung ist, schließt die ästhetische Darstellung vice versa das Politische ein. Bei Schiller zeigt sich, dass aus dieser Konstellation eine Diagnose gewonnen werden kann, die Transformationen auf dem Feld von Ästhetik und Politik gleichermaßen anzeigt. Die gestörte Ordnung des Ritus, wie sie Schiller in missglückenden oder entrückten Choreographien reflektiert, verrät den Zerfall einer Repräsentationslogik, unter deren Gesetz sich der Herrscher auf der Bühne der Zeremonie als Einheit von Mensch und Gott inszenieren konnte. Das Stolpern in den Tanzschritten des Rituals, das uns Schiller vorführt, lässt nicht nur den Untergang des alten Theaters der Politik, sondern auch den Beginn einer modernen Kulturgeschichte ahnen, in der das Wesen der Schönheit aus den Brüchen resultiert, die ihre kohärenten Muster dissoziieren lassen. Die scheiternde Zeremonie ist damit das doppelte Sinnbild für die Dekonstruktion der geschlossenen Form, die Ästhetik und Politik auf den Weg in die Moderne führt. Hinter den Fassaden geregelter Ordnung erscheinen Störungen und Risse, die zentrale Bedeutung für das kulturelle Selbstverständnis einer neuen Zeit gewinnen. Friedrich Schlegel hat sie als „chemische“ Epoche charakterisiert, in der sich die Verhältnisse durch heftige Entmischung aller Verbindungen und Rekombination ihrer Elemente auf dynamische Weise umgestalten. Die theatralische Inszenierung, die bei Schiller die Zeremonien des alten Staates auflöst, zeichnet diese Entwicklung vor, indem sie die Choreographien der Macht als Spiele der Kunst und als Spiele mit der Politik neu organisiert.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag ist die etwas gekürzte Manuskriptfassung eines Vortrags, den der Verfassser am 9. November 2009 in Marbach im Rahmen einer Tagung zum Thema „Schiller, der Spieler“ gehalten hat. Eine erweiterte Version wird in einem die Konferenz dokumentierenden Sammelband publiziert.