Babuschkas letztes Geheimnis

Véronique Olmi schreibt mit „Die Promenade“ einen Roman über das Schicksal einer „weißen“ russischen Flüchtlingsfamilie im Nizza der 1970er-Jahre

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist Mitte Juli 1918. Im 40 Kilometer östlich vom Ural gelegenen Jekaterinburg werden die Befürchtungen unter den Bolschewiki immer größer, die Stadt könne nach der Einkesselung durch die gegnerischen weißen Truppen bald von diesen auch eingenommen werden. Da zu diesem Zeitpunkt der im März 1917 abgedankte Zar Nikolaus II. samt Familie und einiger Diener ebendort gefangen gehalten wird, besteht zusätzlich die Gefahr, dass er im Falle einer Eroberung der Stadt befreit werden könnte und die Weißen damit eine wichtige Symbolfigur für eine etwaige „Konterrevolution“ in ihre Hände bekämen.

Da dies unbedingt verhindert werden soll, wird die Liquidierung der Zarenfamilie beschlossen. Diese befindet sich zu dieser Zeit im ehemaligen Haus des Ingenieurs Ipatjew, das die lokalen Bolschewiki das „Haus zur besonderen Verwendung“ nennen. In der Nacht vom 16. auf den 17. Juli 1918 befiehlt der zuständige Tscheka-Beamte dem letzten absoluten Herrscher, seiner Familie und den wenigen verbliebenen Angestellten in den Keller des Hauses zu gehen, da es in dieser Nacht zu Schusswechseln kommen könne. Stühle werden hineingetragen, damit sich Nikolaus, seine Ehefrau Alexandra Fjodorowna und der frühere Zarewitsch Alexei setzen können. Die anderen stellen sich nach der Anweisung des Kommandanten in die zweite Reihe, um ein Foto für Moskau zu machen, da Gerüchte über eine angebliche Flucht aufgetaucht seien. Anschließend wird ein Erschießungskommando hereinbeführt und den Anwesenden erklärt, dass die Regierung ihre Hinrichtung beschlossen hätte. Der frühere Zar, seine Familie und ihr weniges Personal werden erschossen und ihre Leichen zu einem Bergwerksschacht in einem nahe gelegenen Wald gebracht. Ein paar Tage vergehen, bis alle Spuren beseitigt werden können.

Es ist diese Geschichte, von der die 13-jährige Sonja in Véronique Olmis Roman „Die Promenade“ von ihrer Kindheit an immer und immer wieder zu hören bekommt. Die Erzählung ist so nachhaltig, dass die Ermordung der Zarenfamilie im letzten Jahr des Ersten Weltkriegs zu einem wesentlichen Bestandteil ihres noch jungen Lebens wird. Diejenige, die Sonja von diesem Ereignis berichtet, ist ihre Großmutter oder „Babuschka“, wie diese von ihrer Enkelin auf Russisch genannt wird. Zu zweit leben beide in einer großen Altbauwohnung im südfranzösischen Nizza, wo die alte Dame ab und an alte Freundinnen empfängt und mit ihnen über „die gute alte Zeit“ spricht.

Diese „gute alte Zeit“ ist die des vorrevolutionären Russlands. Sonjas Großmutter trauert ihr nach. Und der Leser erfährt allmählich, warum: Mitte der 1920er-Jahre sind „Babuschka“, ihr Ehemann und Sonjas damals noch kleine Mutter wie viele andere russische Flüchtlinge nach der Revolution in der Heimat nach Westeuropa geflohen. Ihre Familie ist in Nizza gelandet. Geblieben sind sie länger als ursprünglich gedacht, da die Hoffnung, die Bolschewiki könnten schnell gestürzt und eine andere bürgerlich-parlamentarische oder gar monarchische Staatsform (wieder) eingeführt werden, nicht in Erfüllung geht. Die Familie muss sich mit dem provisorischen Flüchtlingsdasein arrangieren. Das Exil wird zur Lebensform, Frankreich jedoch nicht zu einer neuen, zweiten Heimat.

In ihrem Roman, der erstmals 2008 unter dem Titel „La Promenade des Russes“ erschienen ist, verarbeitet die 1962 in Nizza geborene Schriftstellerin Véronique Olmi ihre eigenen Kindheits- und Jugenderlebnisse als Angehörige der exilrussischen Gemeinschaft in Südfrankreich: Es ist Mitte der 1970er-Jahre. Sonja, Alter ego der Autorin und Protagonistin, berichtet in „Die Promenade“ nicht nur von ihrem schwierigen Zusammenleben mit der exzentrischen Großmutter, sondern auch von ihren Eltern, die sich allerdings vor allem durch ihre Abwesenheit auszeichnen. Die Mutter ist dauernd auf Reisen und nur selten zu Besuch bei ihrer Tochter, die sich stark nach ihr sehnt. Der Vater, selbst ein italienischstämmiger Franzose, ist froh, wenn Sonja weit fort ist und erkauft sich seine Ruhe mit gelegentlichem Taschengeld. Und was „Djeduschka“, ihren Großvater, angeht, hat ihn seine Enkelin als ruhigen, in sich gekehrten älteren Herren kennen gelernt. Er, der im Ersten Weltkrieg als Soldat gedient hat und nach der Flucht aus Russland seine Familie als Filmstatist und Angestellter einer Lebensversicherungsanstalt durchgebracht hat, ist gestorben, als Sonja zehn Jahre gewesen ist, „an nervöser Erschöpfung und unverstanden“, nach Aussage seiner Tochter.

So bleibt der 13-Jährigen von ihrer zerrissenen Familie nur ihre Großmutter – und diese auch nur teilweise. Denn ihre Babuschka lebt in ihrer eigenen phantastischen Welt, erzählt von der Zeit der Revolution, hat dauernd Angst vor dem sowjetischen Geheimdienst und lässt es sich nicht nehmen, dem Chefredakteur der „Historia“ immer wieder von ihrem Geheimnis zu schreiben, von dem sie nur ihm zu erzählen bereit ist, nämlich was es mit dem Schicksal der – ihr übrigens gleichaltrigen – Zarentochter Anastasia, die die Ermordung ihrer Familie als einzige überlebt haben soll, für eine Bewandtnis hat.

Was in Olmis „Die Promenade“ so auffällt, ist die Tatsache, dass nicht nur die alte Dame unter der Emigration leidet, wobei sie freilich ergebnislos versucht, ihre traumatischen Erlebnisse, den Verlust von Heimat und Sprache durch die dauernde Umkreisung von bestimmten Schicksalsereignissen zu überwinden. Auch die anderen Familienmitglieder kommen aufgrund ihrer Unfähigkeit, über das Erlittene zu sprechen, sich miteinander über mögliche Bewältigungsstrategien auszutauschen und vielleicht dadurch – und vor allem gemeinsam – das bisher Geschehene zu akzeptieren, nicht darüber hinweg, immer und immer wieder das Weite zu suchen – ob nun zeitlich oder geografisch.

Nicht anders verhält es sich mit Sonja. Vielleicht gerade, weil sie ständig mit der (unbewältigten) Vergangenheit ihrer Familie und deren Heimat konfrontiert wird, möchte sie am Liebsten nichts mit beiden zu tun haben. Das schlechte Französisch der Großmutter, die das R so rollt, stört sie ebenso sehr wie ihre eigene, russische Herkunft: „Ich habe mir vorgestellt, ich wäre nicht mehr die Enkeltochter von Babuschka, sondern würde seit zehn Generationen in Nizza wohnen, und meine Mutter hätte ein Schmuckgeschäft unter den Arkaden der Place Masséna. Meine Familie wäre der Inbegriff der arbeitsamen katholischen französischen Familie, mit einem schlichten Namen wie ,Dubois‘ oder ,Petitjean‘, meine Onkel wären Bäcker oder Trappistenmönche, und ich hieße ,Camille‘ wie die kleinen Lieblinge der Comtesse de Ségur (und ganz bestimmt nicht ,Sonjetschka‘, ich habe immer das Gefühl, man stürzt, wenn man mich ruft, es ist nicht angenehm, ein Gespräch mit einem Sturz anzufangen).“

Und da es sonst niemanden gibt, mit dem sie offen sprechen und sich anvertrauen kann, sucht sie Trost in der Literatur: Immer wieder liest sie die Bücher von Emily Brontë, vor allem aber den Roman „Rebecca“ von Daphne du Maurier (1907-1989). Der Eingangssatz daraus wird ihr zum Talisman: „Letzte Nacht träumte ich, ich wäre in Manderley.“ Doch sie verschweigt, wie es dann weitergeht: „Es war, als stünde ich an dem Eisentor, das zur Auffahrt führt; und es war, als wäre der Weg verschlossen. Dort war ein Vorhängeschloss und eine Eisenkette am Tor.“

Sonjas Weg scheint ebenfalls noch für lange Zeit verschlossen – bis ihre Großmutter stürzt, sich am Bein verletzt und ins Krankenhaus kommt. Plötzlich hat diese die Befürchtung, bald sterben zu müssen, möchte es aber nicht, ohne vorher ihr Geheimnis über das Schicksal der Zarenfamilie dem Chefredakteur von „Historia“ mitgeteilt zu haben. Mit etwas Nachhilfe von Seiten ihrer Enkelin kommt eine Nachricht von ihm. Doch schon vor ihrem Treffen mit dem Journalisten verrät Babuschka ihr, was sie wirklich über die Ereignisse im Juli 1918 in Jekaterinburg weiß. Ihre Wahrheit wird Sonjas bisheriges Weltbild erschüttern.

Titelbild

Veronique Olmi: Die Promenade. Roman.
Übersetzt aus dem Französichen von Claudia Steinitz.
Verlag Antje Kunstmann, München 2009.
240 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783888975523

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