Tyche oder Kairos?

Warum man sich mehr vor Angehörigen als vor Terroristen fürchten muss: Jeffrey S. Rosenthal und Klaus Mainzer führen in die seltsame Welt des Zufalls ein

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vermutlich hat noch niemand davon gehört, dass ein Spielcasino Pleite gegangen wäre. Warum eigentlich? Schließlich könnte doch jeden Tag ein Glückspilz „die Bank sprengen“. Was im Kino regelmäßig zu bestaunen ist, geschieht in der Realität jedoch nur höchst selten. Dort herrscht das „Gesetz der großen Zahl“. Und dieses Gesetz haben sich die Casinobetreiber zunutze gemacht.

Alle Glücksspiele, bei denen der Zufall regiert, vom Roulette bis zum Würfelspiel Craps, sind so konstruiert, dass die Chancen der Spieler ein klein wenig unter 50 Prozent liegen – nicht zu viel, damit das Spiel dem Einzelnen noch attraktiv erscheint, aber genügend, damit das Casino seinen Profit macht. Beim Roulette, bei dem man ja einfach immer auf Schwarz oder Rot setzen könnte, um auf lange Sicht zumindest seinen Einsatz wieder herauszuholen, regelt dieses minimale Ungleichgewicht zu Gunsten der Bank die Null beziehungsweise die Doppelnull. Wer stets zehn Dollar auf Rot setzt, verliert daher im Schnitt 53 Cent pro Spiel, hat der kanadische Mathematiker Jeffrey S. Rosenthal errechnet. Ein scheinbar kleiner Betrag, der sich aber aus Sicht der Bank aufgrund der Vielzahl an Einsätzen schnell summiert.

Deshalb fällt Rosenthals Ratschlag auch ernüchternd aus: Wer gewonnen hat, sollte umgehend seine Jetons einlösen und gehen. Noch schlechter sind die Aussichten beim Lotto, die Wahrscheinlichkeit für einen Sechser beträgt nur 1 zu 14 Millionen. Nach Rosenthal ist es „wahrscheinlicher, mit dem Auto auf dem Weg zur Lottoannahmestelle umzukommen, als den Jackpot zu knacken“ – weshalb der Autor selbst noch nie in seinem Leben einen Lottoschein ausgefüllt hat.

Das augenzwinkernde Bekenntnis zeigt, worauf es dem Professor für Statistik ankommt: die Vermittlung alltagstauglicher Anwendungsmöglichkeiten für die Wissenschaft vom Zufall, die Wahrscheinlichkeitslehre. Diese ist nicht zufällig im 17. und 18. Jahrhundert aus der Erforschung der Glücksspiele entstanden. Bei Spielen wie Poker oder Blackjack, bei denen neue Informationen wie etwa aufgedeckte Karten während einer Partie die Aussichten verändern, lassen sich durchaus Strategien entwickeln, mit denen man seine Gewinnchancen zumindest maximieren kann.

Rosenthals wunderbar lebendig und anschaulich geschriebene Einführung in die „seltsame Welt des Zufalls“, der auch Nichtmathematiker problemlos folgen können, ist jedoch nicht nur eine Pflichtlektüre für passionierte Spieler. Denn der „Blick für Chancen und Risiken“ schützt in vielen Lebenssituationen vor übertriebenen Hoffnungen ebenso wie vor unnötigen Ängsten. Daher lehrt Rosenthals Buch nicht nur Meinungsumfragen oder die Ergebnisse von Medikamentenstudien richtig zu lesen, sondern auch Statistiken. Politiker und Medien mögen noch so sehr vom Spiel mit kollektiven Ängsten vor Terror, Gewalt oder neuen Krankheiten profitieren, die Statistik zeigt häufig ein anderes Bild. Nicht jedes zeitweilig gehäufte Auftreten von Flugzeugabstürzen, Amokläufen oder Kindesmisshandlungen ist gleich ein Trend, für den es Ursachen geben muss – aus Sicht der Statistik liegt häufig nur eine normale „Poisson-Klumpung“ vor, sprich Zufall.

Das Risiko, durch einen Unfall ums Leben zu kommen, ist viel höher, als das, Opfer einer Gewalttat zu werden. Selbst in den USA ist die Mordrate seit Jahrzehnten im Sinken begriffen. Und sollte jemand doch ermordet werden, so mit weitaus größerer Wahrscheinlichkeit von einem Familienmitglied oder Bekannten als von einem Terroristen, Serienkiller oder religiösen Fundamentalisten. Ein Trost ist das zwar nicht, animiert aber zur Zurückhaltung, wenn wieder einmal nach schärferen Gesetzen gerufen wird.

Welche Bedeutung minimale Ungleichgewichte wie beim Roulette auch in anderen Bereichen wie etwa der Biologie haben, verdeutlicht eine weitere lesenswerte Neuerscheinung zum Thema Zufall. Der Augsburger Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Klaus Mainzer, ein Vertreter der Theorie komplexer Systeme und nichtlinearer Dynamik, widerspricht darin der Vorstellung, in der Evolution setzten sich die bestangepassten Arten durch. „Tatsächlich ist die Evolution ein stochastisch wild wuchernder Busch, dessen Äste viele Entwicklungen unter kontingenten Bedingungen ausprobierten oder einfach abbrachen.“

Von einem intelligent design kann also keine Rede sein. Häufig sind es nur zufällige Vorteile in der Anfangsphase, die sich in der Folge an den „Instabilitätspunkten“ der Übergänge zwischen mehreren möglichen Zuständen hochschaukeln und dazu führen, dass etwas Neues seine Mitbewerber verdrängt, ohne dass diese Entwicklung am Anfang hätte vorausgesagt werden können. Solche Zufallsfluktuationen gibt es ebenso im Bereich der Ökonomie oder Politik. Sie sind es, die darüber entscheiden, wer am Ende Marktführer oder Wahlsieger wird – nur dass dann niemand mehr danach fragt.

Denn wem das Glück hold ist, für den gilt typischerweise die Regel: The winner takes all! Am Anfang des Wettbewerbs steht der Zufall und kein Optimierungsverfahren, das die besten Varianten aussiebt: „Selbst wenn ein technischer Standard wie zum Beispiel ein Computerbetriebssystem unter fachlichen Gesichtspunkten nicht die beste Lösung ist, kann er sich global auf diesem Weg durchsetzen.“

Während Rosenthal im Umgang mit dem Zufall praktische Entscheidungshilfe gibt, führt Mainzer in einer mitunter arg komprimiert ausfallenden, anspruchsvollen tour de force durch scheinbar weit auseinanderliegende Gebiete wie die Welt der Quantenphysik, Kosmologie, Computerkryptografie oder den Random-Walk der Finanzmärkte. Ordnung, so Mainzer, entsteht immer nur als temporäre Insel im Meer chaotischen Zufallsrauschens. Mit Konsequenzen für das Handeln. Damit aus dem blinden ein kreativer Zufall wird, müssen die Systeme so verändert werden, dass sie sich im gewünschten Sinne selbst organisieren und Resultate schaffen, die für uns günstig sind. Dann erst regiert statt Tyche, der Göttin der guten oder bösen Fügung, Kairos, der Gott des günstigen Augenblicks, den es am Schopfe zu packen gilt. Vielleicht sollte man also bei den Betreibern von Spielcasinos in die Lehre gehen.

Titelbild

Klaus Mainzer: Der kreative Zufall. Wie das Neue in die Welt kommt.
Verlag C.H.Beck, München 2007.
290 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783406554285

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Jeffrey S. Rosenthal: Vom Blitz getroffen. Die seltsame Welt der Wahrscheinlichkeiten.
Übersetzt aus dem Englischen von Carl Freytag.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
240 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783821856476

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch