Zu dieser Ausgabe

Nach dem Ende des Kalten Kriegs sind die Machtkämpfe und die internationalen Konflikte nicht aus der Welt. Im Gegenteil: Vielleicht haben sich die Probleme durch die „Globalisierung“ sogar noch verkompliziert. Im Interview mit der „Frankfurter Rundschau“ bemerkte der italienische Politikwissenschaftler Antonio Negri, gerade fänden derartige Änderungen der Weltlage statt, „dass der Fall der Berliner Mauer im Vergleich dazu eine Lappalie ist. Wir unterschätzen diese Umwälzungen, weil wir immer noch aus der Perspektive unserer kleinen europäischen Geschichte auf die Welt blicken. Sicher war diese Geschichte einmal groß und wichtig, sogar allzu groß und wichtig. Wir waren die Geschichte, wir sind es aber nicht mehr.“ Negri betont, die Macht der Nationalstaaten sei weltweit "ziemlich eingeschränkt": "Das Finanzkapital organisiert sich global."

Auch die New Yorker Komparatistin und Pionierin der Postcolonial Studies Gayatri Chakravorty Spivak weist in ihrem Aufsatz aus dem von Julia Reuter und Paula-Irene Villa herausgegebenen Band über „Postkoloniale Soziologie“ darauf hin, dass die Welt mittlerweile „einfach zwischen Nord und Süd geteilt“ sei. Die aktuelle Geografie dieser Machtkonstellation orientiere sich aber weniger an den Grenzen von Nationen oder Staaten, sondern an einer Einteilung der Erde, die von der Weltbank und anderen „Global Players“ des Finanzmarkts vorgenommen werde: „Die Grenzen, die mit ihren Schraffuren diese neuen Landkarten oder ‚Informationssysteme‘ durchziehen, sind fast niemals national oder gar ‚natürlich‘. Es handelt sich vielmehr um Investitionsgrenzen, die sich ständig verändern, weil sich die Dynamik des internationalen Kapitalmarkts rasant fortentwickelt“, schreibt Spivak.

Hinzu kommen neue ideologische Konflikte, die sich zwischen den Einflusszonen unterschiedlicher religiöser Vorstellungen immer weiter verschärfen und durch das neue Medium des Internets umso leichter „globalisiert“ werden können. Die „Grenzen“ zwischen den sich hier gegenüberstehenden Gesellschaftssystemen lassen sich gleichzeitig immer schwerer bestimmen, weil sich die sozialen Strukturen „westlicher“ Länder und die der sogenannten „Dritten Welt“ längst gegenseitig durchdringen und beeinflussen. Glaubt man führenden Theoretikern wie Homi K. Bhabha, so lässt sich den hier entstehenden ‚Zwischenräumen‘ wiederum auch viel Positives abgewinnen.

Nachdem literaturkritik.de bereits im Juni 2008 einmal einen Themenschwerpunkt zu den Postcolonial Studies brachte, widmet sich unsere Zeitschrift auch in der aktuellen Ausgabe abermals intensiv den skizzierten Problemen und Chancen der Interkulturalität – mit Artikeln und Rezensionen zur einschlägigen belletristischen Literatur und zu beispielhaften philologischen Interpretationen, zu neueren Publikationen aus der Geschichtswissenschaft sowie anderen transkulturellen Untersuchungsfeldern.

In den Worten Edward W. Saids wünscht Ihnen dazu viele
„kontrapunktische Lektüren“
Ihr
Jan Süselbeck