Unter dem „Schamradar“

Der Journalist Till Briegleb über die am meisten unterschätzte Kraft der Menschheitsgeschichte

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Leigh Bowery nannte die Verlegenheit einmal einen „schwarzen Fleck auf der Landkarte der Emotionen“. Der Performancekünstler selbst schien bis zu seinem AIDS-Tod 1994 einer der schamlosesten Menschen überhaupt zu sein: Als Kultfigur der Londoner Clubszene präsentierte sich Bowery in grotesk-geschmacklosen Outfits, die von monströsen Tüllkostümen bis zu Kloschüsseln als Kopfbedeckung reichten und vor allem einen Zweck hatten: die offensichtliche Hässlichkeit ihres Trägers ins Maßlose zu übertreiben.

Weil Leigh Bowery auf diese Weise die Scham über sein Aussehen besiegte, gehört er für Till Briegleb zu den „Helden der Scham“, neben beispielsweise Charles Baudelaire, Casanova, Francis Bacon oder Charlie Chaplin: Menschen, die aus dem Gefühl der Scham den Hauptantrieb ihres Lebens machten, sie in ihrer Kunst analysierten oder sublimierten oder die in ihrem Leben und Werk nach Wegen suchten, über sie zu triumphieren.

Till Briegleb beleuchtet die vielen, durchaus nicht nur negativen Facetten unserer mentalen Achillesferse in einem mit Abstrichen lesenswerten Essay, der in der „Bibliothek der Lebenskunst“ des Insel Verlages erschienen ist. Ohne sich weiter damit aufzuhalten, zwischen den Gefühlen von Peinlichkeit, Verlegenheit oder Schuld zu differenzieren, hält der Hamburger Journalist das Schamgefühl für die „vielleicht am meisten unterschätzte Kraft der Menschheitsgeschichte“. Mit ihrer Hilfe manipulieren Religionen ihre Gläubigen ebenso wie fiese Chefs ihre Angestellten oder die Werbung den Konsumenten; wenn sie umschlägt, kommt es zu Hass, Autoaggression oder Mord. Zugleich aber gebe es ohne sie weder Kunst noch Wissenschaft, weil erst die Scham über Unvollkommenheit oder mangelndes Wissen den Menschen zur Veränderung antreibt.

Auch Mode oder Design hält Briegleb für Manifestationen des Schamgefühls, Versuche, als schmerzlich empfundene Unzulänglichkeiten zu verkleiden. Da dies für den Stil eines Menschen ebenso gelten sollte, scheint auch der Autor von der Scham ganz schön gebeutelt zu werden – so manieriert und gewollt originell erscheint Brieglebs Sprache, die den Leser mit Formulierungen wie „Rohrstock verinnerlichter Sittsamkeit“ ebenso peinlich berührt wie mit immer bizarreren Komposita wie „Schamradar“ oder „Schammanagement“.

Das Schamgefühl ist selbst peinlich; gern maskiert es sich hinter „Coolness“, rationalen Argumenten oder „schamabwehrenden Deckaffekten“ wie Verachtung oder Neid. Dass unsere kapitalistisch organisierte Gesellschaft jedoch das Zeigen von Scham generell unterdrückt, wie Briegleb behauptet, und nur das starke, funktionstüchtige Subjekt anerkennt, überzeugt wenig: Immerhin konstatieren Soziologen wie Eva Illouz einen allgegenwärtigen therapeutischen Diskurs, der jeden einlädt, sich als zuwendungsbedürftiges Trauma-Opfer ausschämen zu dürfen.

Für Georg Simmel, neben Jean-Paul Sartre, Norbert Elias, dem Freiherrn Knigge und dem Analytiker Léon Wurmser einer von Brieglebs Kronzeugen, besteht das Schamgefühl darin, dass wir glauben, unsere ganze Person würde schlagartig sichtbar werden, in all ihrer Verletzlichkeit und Unzulänglichkeit. Wann aber ist das der Fall? Das hängt offenbar von vielen Bedingungen ab, sozialen, kulturellen, individuellen und nicht zuletzt situativen. Paris Hilton beispielsweise, eine der öffentlichsten Personen des Planeten, hat keine Probleme damit, dass von ihr ein explizites Sex-Video im Internet kursiert. Als die Hotelerbin aber während ihrer mehrwöchigen Gefängnisstrafe nur unter Beobachtung die Toilette benutzen durfte, soll das für sie so peinlich gewesen sein, dass sie kaum noch Flüssigkeit zu sich nahm.

Dass unsere Gesellschaft schamloser geworden sei, wie heute gern behauptet wird, bezweifelt Briegleb; selbst Trash-TV à la „Dschungelcamp“ funktioniere nur über das Phänomen des Fremdschämens. Eher komme es zu Verschiebungen und Verlagerungen: Postmoderne Lässigkeiten lassen alte Schamängste verschwinden, erzeugen aber zugleich neue: Man fliegt um die ganze Welt, schämt sich aber dabei, weil man so daran mitwirkt, das Klima zu ruinieren.

Dennoch bieten die Buntheit moderner Lebensstile oder die neue Unverbindlichkeit bei Lebensentscheidungen nach Briegleb einen hilfreichen Schutz vor unnötigen Schamerfahrungen, nach dem Motto: Ich will doch nur spielen. Und ebenso multikulturelle Lebensverhältnisse. Während sich in seinem Stadtteil St. Pauli mit all den sozialen und ethnischen Gegensätzen die verschiedenen Scham erzeugenden „Blicke der Anderen“ wechselseitig kontrollierten und damit neutralisierten, seien die Schamängste „nirgendwo höher als in einer sauberen Einfamilienhaussiedlung, im Kloster, im islamischen Gottesstaat“. Warum dies St. Pauli dann nicht auch zum friedlichsten Teil Hamburgs macht, lässt der Autor allerdings offen.

Titelbild

Till Briegleb: Die diskrete Scham.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
170 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-13: 9783458174387

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