Die Dämonen der Kindheit

Hanns-Josef Ortheil bringt die literarische Annäherung an sein Leben zu einem befreienden Höhepunkt

Von Winfried StanzickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Winfried Stanzick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

 

Schon in seinen letzten großen Romanen „Die große Liebe“ und „Das Verlangen nach Liebe“ hatte der 1951 in Köln geborene Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil mit viel autobiografischem Material gearbeitet. Nun, in dem vorliegenden, vom Autor wohl schon seit Jahrzehnten geplanten Buch „Die Erfindung des Lebens“, kommt seine langsame, schrittweise Annäherung an seine eigene schmerzhaft-schöne Lebensgeschichte, die er von Buch zu Buch intensiviert hat, zu ihrem Höhepunkt und zu einem schließlich befreienden Endpunkt.

Hanns-Josef Ortheil erzählt die bewegende Lebensgeschichte von Johannes Catt, seinem Alter Ego. So wie Ortheil selbst hat Johannes vier Geschwister, von denen er allerdings erst spät erfährt. Er ist das fünfte Kind seiner Eltern und er wächst in den frühen 1950er-Jahren in einem Dorf im Westerwald auf, in einer totalen und stillen Symbiose mit einer Mutter, die nach dem Tod der vier früheren Kinder nicht mehr spricht. Auch Johannes bleibt stumm bis zu seinem 7. Lebensjahr, als er sich spontan entschließt, mit dem Reden anzufangen. Der sympathisch geschilderte Vater versucht sein Bestes, mit der für ihn seit langem schon schwierigen Situation fertig zu werden und seiner Frau und seinem Sohn das zu geben, was er kann. Er fungiert sozusagen als Bindeglied der Familie zur Außenwelt, die ansonsten in die geräuschlose Stille dieser abgeschiedenen Welt nicht eindringen kann.

Das ändert sich erst, als ein Klavier angeschafft wird. Johannes lernt zu spielen, und das Spiel befreit ihn vom Schicksal eines immerwährenden Außenseiter. Er, der lange nur „der Idiot“ war, sagt von sich: „Ich war nicht länger ein kleines, wenig beachtetes Etwas, nein, ich war nun ein Klavierspieler, der das fehlende Sprechen durch das Klavierspiel ersetzte und sich mit Hilfe dieses Spiels auszudrücken versuchte.“

Diese Musik, über deren heilende Wirkung unlängst der berühmte Neurologe Oliver Sacks in seinem Buch „Der einarmige Pianist“ berichtete, ist es wohl auch, die die vielen Bilder in Johannes Kopf in Sprache umsetzt. Als er allein mit seinem Vater längere Zeit in der ländlichen Gegend seiner Kindheit zubringt ( die Eltern sind mittlerweile nach Köln gezogen ), spricht er in Abwesenheit der Mutter die ersten Worte seines Lebens: „Es war eine unglaubliche Befreiung, aus dieser Stadt heraus zu sein und von all diesen Menschen, die einen dauernd beobachten, weg zu sein.“

Weg wohl auch von der stummen Mutter, aus deren symbiotischer Umarmung er sich ohne die Hilfe des einfühlsamen Vaters nicht hätte befreien können. „Das war das erste Mal gewesen, das ich gemerkt habe, das ich einen Körper habe, der etwas anderes macht, als sich zurückzuziehen.“

Er bekommt Unterricht, er hat unglaubliches Talent, und als irgendwann auch seine Mutter wieder spricht (Johannes weiß längst, warum sie so lange geschwiegen hat und findet in der Vorstellung seiner vier ihn vom Himmel aus beschützenden Geschwister viel Trost und Stärke), scheint sein Leben eine entscheidende Wendung zu nehmen. Obwohl seine Schulkarriere in einer auf Musik spezialisierten Klosterschule alles andere als glücklich verläuft, ist er mit 19 Jahren ein gefeierter Pianist. Er beschließt ganz alleine nach Rom zu fahren, nimmt sich dort ein Zimmer und bewirbt sich zum Studium am römischen Konservatorium.

Johannes Catt alias Hanns-Josef Ortheil ist auf dem Weg nach oben, als eine chronische Sehnenscheidenentzündung seiner Pianistenkarriere ein jähes und schmerzhaftes Ende setzt. Johannes wendet sich wie sein Alter Ego der Schriftstellerei zu und ist auch da erfolgreich. Aber wie man den Büchern von Hanns-Josef Ortheil immer wieder abspürt – die Dämonen der Kindheit und das Trauma lassen sich auch durch unablässiges Schreiben nicht völlig bannen. Sein Leben nimmt einen durchaus glücklichen Verlauf, doch es vermittelt ihm nach wie vor keine Sicherheit: „Ich habe immer das Gefühl, das kann auch jederzeit zusammenbrechen. Ich habe immer das Gefühl, bis jetzt noch, aber irgendwann ist es weg. Das ist derart eingeimpft, weil es in meinem Leben derart oft passiert ist, das aus relativ gelungenen Momenten wieder ein Scheitern eintrat.“

So verliert er seine große Liebe und die Musik. Doch zum Schreiben des Buches kehrt er nach Rom zurück, wo Ortheil die Rahmenhandlung seines beeindruckenden autobiografischen Romans ansiedelt. Dort, in jener Stadt, die er mit seinen schönsten Jugendjahren verbindet, erfindet er sein Leben neu, indem er sich erinnert. Aus diesen Erinnerungen, oft nur noch als Fragmente verfügbar, setzt er sein Lebenspuzzle neu zusammen.

Eine begabte Klavierschülerin aus seiner Nachbarschaft, mit deren Mutter er beinahe eine Beziehung beginnt und die er über einige Zeit musikalisch begleitet, weckt in ihm immer wieder Deja-Vus. Sie lassen die Bilder und die Musik der Vergangenheit neu entstehen und neu erklingen und wirken bis in die aktuelle Gegenwart.

Ortheil hat es in seinem wohl persönlichsten Buch auf eine meisterhafte Weise verstanden, das Gestern und das Heute zu verbinden und zu einer einmaligen Leseerfahrung zu machen.

Schon lange hat kein Buch mehr so mitfühlend vom Leben und der Liebe geschrieben. Ortheils Roman ist ohne jeden Kitsch und ohne jedes Pathos ein Buch, dessen wahre Geschichte noch das härteste Leserherz erweichen wird. Ein Buch über die heilende Kraft der Musik und die lebensrettende Wirkung des Schreibens und der Literatur. Denn niemand wird dieses Buch nach atemlosem und gebannt-mitfühlendem Lesen aus der Hand legen, ohne so etwas wie wirklichen Trost und Ermutigung für sein eigenes Leben gespürt zu haben, wie immer es auch aussehen mag. Ein großes Buch, ein wahrhaft meisterhafter Roman.

Titelbild

Hanns-Josef Ortheil: Die Erfindung des Lebens. Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2009.
590 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783630872964

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