„Aus sich herausgefallen“

Über Reinhard Kaiser-Mühleckers Roman „Magdalenaberg“

Von Irina HronRSS-Newsfeed neuer Artikel von Irina Hron

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine grün-braune Box, darin ein paar Kassetten, wahllos verstaut zwischen Einwegrasierern, Rasierschaum und zwei Autozeitschriften. Das ist der materielle Nachlass, mit dem sich Joseph Wagner nach dem unerwarteten Unfalltod seines Bruders Wilhelm auseinandersetzen hat. Auf einer dieser Kassetten entdeckt der Ich-Erzähler eine Tonaufnahme, die den verstorbenen Bruder bei einem Gespräch mit der ebenfalls bereits toten Großmutter wiedergibt. Zwei Stimmen, die aus dem Jenseits zu kommen scheinen und mit einem Mal wieder gegenwärtig werden. Die beiden körperlosen Stimmen sprechen über Vergangenheit, Kindheit und vergessenes Brauchtum. Sie erscheinen dem lauschenden Erzähler konfus und ungeordnet.

Diese Szene aus Reinhard Kaiser-Mühleckers Roman „Magdalenenberg“ enthält in Form einer Miniatur den gesamten Bauplan des Textes, denn auch jener erregt zunächst Verwirrung. Die unterschiedlichen Zeitebenen von Kindheit, Jugend und der Gegenwart des Erzählens verschwimmen, schieben sich ineinander und es entsteht der Eindruck, als zögen die einzelnen Bilder und Szenen wie hinter einer Milchglasscheibe vor dem Auge des Betrachters vorbei. Die Szenerie ist klar gezeichnet, doch bei jedem Versuch, genauer hinzusehen, lösen sich die Konturen auf. Es ist nicht ganz einfach zu bestimmen, in welchem Zeit-Umkreis man sich gerade befindet: In Pettenbach, in Wien, in Graz oder in Hallstatt. Und das ist auch so gewollt.

Im Roman scheint es immer Herbst zu sein. Dieser ist allgegenwärtig, nicht nur als Jahreszeit. Wilhelm, stirbt im Herbst – von einer Straßenbahn überrollt, als er sein Gesicht dem Himmel zuwendet. Mehrfach sieht der Erzähler den Herbst „wie eine Person […] unter dem tiefen Himmel gebückt im Kreis g[ehen]“ und seine Erinnerungs-Szenen finden zumeist vor einer herbstlichen Kulisse statt. Der Herbst ist die Jahreszeit, die übrig bleibt, wenn alles andere verschwunden ist.

Als Bauernsohn meint Joseph ein natürliches Zeitgefühl mitbekommen zu haben, ein fast physisches Empfinden von Zeit, doch nach dem Tod des Bruders ist ihm diese abhanden gekommen. Er spricht und schreibt von der Warte des Hier und Jetzt, doch scheint ihm die Zeit zwischen den Fingern, die ihm die Feder führen, zu zerrinnen. Damit verbunden ist auch das Sinnieren über Räume und Räumlichkeit – und der Erzähler konstatiert bestürzt, dass er „nach einem Ort gesucht [hatte], wie andere nach einem Menschen suchen“. Wilhem hingegen rät ihm zu bleiben, sich mit einem Ort abzufinden, aufzuhören zu suchen.

Die Frage nach Anfang und Ende spielt eine entscheidende Rolle im sensiblen Textgeflecht des Romans. Nicht nur das Ende der Kindheit wird mit Worten beschworen, auch sitzt der Erzähler in seinem einsamen Haus in Hallstätt und ist unfähig zu beginnen. Es erinnert an Thomas Bernhard, wenn die Abhandlung über die Entstehungsgeschichte des Berufs des Instrumentenbauers immer wieder aufgeschoben wird. Auch die Beziehung zu Katharina ist ein Verhältnis ohne Anfang und Ende. Katharina – sie und Joseph sind so „etwas wie ein Paar“ – kann nicht begreifen, dass sie ihn nie etwas arbeiten sieht. Sein Quartheft liegt immerzu auf dem Tisch. Leer. Und ohne je richtig begonnen zu haben, ist die Beziehung zu ihr ebenso still wieder zu Ende, ohne dass Joseph auch nur das Geringste dazu getan hätte. Er ist sich selbst hinterher und immer einen Moment zu spät, ein Beobachter seines eigenen Lebens. Dabei nimmt die Erinnerung als „Micherinnern“ einen entscheidenden Stellenwert ein. Wenn Joseph beschreibt, wie das Reiben der Fersen an der Friedhofsmauer ein Gefühl von damals wachruft, entsteht ganz unvermutet das Bild der Proust’schen Madelaine.

Doch zurück zum Bruder, zu Wilhelm, der die Gegenfigur zum Erzähler-Ich abgibt. Man sieht die beiden Brüder meistens schweigen: Stumm an einem Tisch sitzend, wortlos nebeneinander hergehend oder gemeinsam im Urlaub – und doch getrennt. Dies gilt auch für die Sprache, in der sie zueinander sprechen. Ihre Unterhaltungen sind im Grunde „wie ein Selbstgespräch“ und wenn Joseph beschreiben soll, warum er tut was er tut, so ist die Antwort: „Es ist wegen meines Bruders“.

Und schließlich der Magdalenaberg, über den wir nicht viel erfahren. Es ist nicht leicht, die Dimension zu greifen, in der plötzlich ein Satz aus dem Matthäus-Evangelium wichtig wird. Und auch das Eingangszitat von T.S. Eliot verweist auf ein Moment, das dieser Sphäre angehört: Demut. Drei Mal taucht am Schluss des Buches die Gestalt des Gekreuzigten auf und mit ihm die Frage, ob der Erzähler hier an einer Auferstehungsgeschichte schreibt. Erst nachdem er hinabgestiegen ist in das Reich des Todes, beginnt Wilhelm Gestalt anzunehmen: „Mein Bruder ha[t] in meinem Leben keine besondere Rolle gespielt, und beginn[t] eigentlich erst jetzt so richtig, mein Bruder zu werden“.

Kaiser-Mühleckers Roman berührt durch seine bewusst und sehr behutsam gesetzten Bilder und Bildfolgen, die von einem melancholischen, aber warmen Tonfall getragen, nie ins Klischeehafte abrutschen. Ganz von selbst beginnt auch der Leser, gemeinsam mit Joseph, über die Arten und Wörter von Grün nachzudenken.

Titelbild

Reinhard Kaiser-Mühlecker: Magdalenaberg. Roman.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2009.
224 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783455401929

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