Fäden ins Gestern

Hartmut Langes neue Novellensammlung „Der Abgrund des Endlichen“ kreist um das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor einem alten Mann steht eines Tages der Mörder seines Bruders. Mehr als ein halbes Jahrhundert nach der unbestraft gebliebenen Tat hat er sich aufgemacht, weil ihm nach Sühne verlangt. Und wer könnte ihm besser dabei helfen, als der letzte Spross jener Familie, über die er damals Unglück brachte? Doch derjenige, der hier so unvermittelt die Doppelrolle von Richter und Henker angeboten bekommt, weiß kaum mehr etwas von jenen Tagen kurz nach dem großen Krieg. Und nur widerwillig lässt er sich von dem unheimlichen Gast an die Schauplätze der Tragödie zurückführen.

„Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“ Christa Wolfs Satz aus „Kindheitsmuster“, seinerseits zur Hälfte ein Echo aus der weltliterarischen Vergangenheit, könnte als Motto sowohl über der ersten als auch über der dritten und letzten der neuen Novellen von Hartmut Lange (Jahrgang 1937) stehen. Und auch der kürzeste Text des schmalen Bändchens, der von den beiden eingerahmt wird, lebt aus der Differenz der Zeiten, die bei genauerem Hinsehen mehr Kontinuitäten offenbaren, als den heute Lebenden lieb ist.

Wo sich der „Abgrund des Endlichen“ zum Unendlichen hin öffnet, findet das Unheimliche ein Schlupfloch ins Jetzt. Alle drei Hauptfiguren Langes – ein geschiedener Studienrat, dem langsam die Koordinaten seines bis vor Kurzem noch geordneten Lebens verrutschen, ein privatisierender Historiker, der die Liebe zur Mystikerin Hildegard von Bingen über alle Beziehungen stellt, die ihn an die Gegenwart binden, und eben jener sich als einziger der Drei in der Ich-Form äußernde Protagonist, der plötzlich einer Gestalt aus der Vergangenheit gegenübersteht, die aber nur scheinbar aus seiner Erinnerung verschwunden war –werden dieser Erfahrung teilhaftig. In der Terminologie Langes heißt das „Lichtwechsel“ oder „Wetterwechsel“. Novellentechnisch muss man wohl von „unerhörten Begebenheiten“ reden, wenn ein kurzer Augenblick, ein Ereignis, dem, für sich genommen, kaum Bedeutung zukommt, reicht, um das Leben der jeweiligen Figur bis in seine Grundfesten zu erschüttern.

Lange braucht, um das jeweils in Szene zu setzen, nicht viel Raum. Und diesen knappen Platz unterteilt er noch einmal in kleinere Erzählstrecken – selbst das nur 23-seitige Mittelstück des Buches, „Hinter der Brücke“, ist in 6 Kapitel untergliedert –, um alles Nebensächliche zuverlässig auszublenden, ihm gar nicht erst die Chance zu geben, sich mit Geschwätzigkeit bemerkbar zu machen. So entstehen ganz auf die drei Helden und deren Konflikte zugeschnittene, sprachlich genaue, sozusagen exemplarische Novellen, die im Leser einen Eindruck hinterlassen, der sich lange nach der kurzen Lesezeit noch bemerkbar macht. Etwas wird angestoßen, das dann weiterschwingt.

Bis auf die dritte Figur, von deren sozialem Umfeld man nichts erfährt, sind Langes Protagonisten übrigens mehr oder minder fest an andere Menschen gebunden. Um den Studienrat aus „Mathilde oder Der Lichtwechsel“ sorgen sich seine beiden Eltern und ein Kollege, zu dem sich der Geschiedene offensichtlich hingezogen fühlt. Alexander Friedrich, der Mittelalter-Experte, pflegt eine lockere Beziehung zu der Kardiologin Anneliese Bauer, die die Mystikerin als Konkurrentin um die Gunst des Mannes empfindet und angesichts von bei ihm zunehmenden ernsten Krankheitssymptomen die entscheidende Frage formuliert: „Wollen wir noch ein paar Jahre zusammenbleiben, oder willst du gleich zu deiner Hildegard von Bingen?“

Allein diese Frage beantwortet sich von selbst. Einmal an den Rand der Existenz getreten und in den Abgrund geschaut, ist es schwer, ja fast unmöglich, in die Normalität zurückzukehren. Immer ist da etwas, das hinüber- und hinabzieht – mal ein verführerischer Klang, mal eine Frauenfigur, aufgestellt zum Schmuck eines Hauses, welches inzwischen als Autowerkstatt dient, mal eine ausgebliebene Sühne. Das nicht Abgegoltene hat mehr Kraft über das Gegenwärtige, als dieses ihm zugestehen will. Räumt man ihm freiwillig keinen Raum ein, treibt es den Menschen in die Katastrophe.

Titelbild

Hartmut Lange: Der Abgrund des Endlichen. Drei Novellen.
Diogenes Verlag, Zürich 2009.
126 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783257067156

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