Die Liebenden hängen fest
Über Ulrike Draesners Roman „Vorliebe“
Von Peter Mohr
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseGibt es heute noch so etwas wie eine vollkommene Liebe? Einen absoluten Gleichklang von Körper und Geist? Oder schließen sich ehrgeizige berufliche Ambitionen und eine harmonisch-sinnliche Partnerschaft aus? Dies sind einige zentrale Fragen, um die Ulrike Draesners anspielungsreicher Roman „Vorliebe“ kreist, ohne am Ende jedoch Antworten zu liefern.
Die promovierte Astrophysikerin Harriet Saramandipur ist in die Jahre gekommen. An Attraktivität mag sie eingebüßt haben, aber ihr beruflicher Ehrgeiz ist ungebrochen. Sie steckt voller Pioniergeist, will im wahrsten Sinne des Wortes Horizonte erweitern und in den Weltraum fliegen. Dafür nimmt sie sogar strapaziöse körperliche Torturen auf sich.
Autorin Ulrike Draesner, die selbst Jura, Anglistik, Philosophie und Germanistik studierte und ihr Studium mit einer Promotion über den Parzival abgeschlossen hatte, entwirft mit Harriet eine Frauenfigur, die geprägt ist von ihrer wissenschaftlichen Arbeit und von einem unstillbaren Hunger nach neuen Forschungsergebnissen angetrieben wird.
Sie lebt seit vielen Jahren in einer routinierten, aber wenig leidenschaftlichen Beziehung mit Ashley Mowll, Ingenieur und Spezialist für Turbinentechnik. Der Vater eines aus einer früheren Beziehung stammenden männlichen Teenagers prophezeit Harriet irgendwann, dass sie selbst wie eine Maschine werden könnte – nur noch aufs ordnungsgemäße Funktionieren bedacht.
Gewaltige emotionale Wellen entfacht die 48-jährige Draesner, als sie Ashley einen Verkehrsunfall verursachen lässt. Er bringt durch eine Unachtsamkeit mit seinem Auto eine Radfahrerin zu Fall. Und dann beginnt ein Gefühlsreigen, der Johann Wolfgang Goethes „Wahlverwandtschaften“ in zeitgenössischem Gewand präsentiert. Die gestürzte Radlerin ist Maria Olvaeus, Ehefrau von Harriets erster großer Liebe Peter.
Das einstige Liebespaar begegnet sich auf dem Klinikflur, Harriet „verguckt“ sich sofort wieder in den evangelischen Pfarrer, und die Karten im „emotionalen Quartett“ werden fortan neu gemischt. Peter und Harriet sind jedoch alles andere als ein Traumpaar. Hat Harriet gar ihre Sinnlichkeit auf dem Altar der Karriere geopfert? Aber die gegenseitige Affinität wird nach all den Jahren auf geheimnisvolle Weise wieder erweckt.
Draesner, die zuletzt 2005 den um die Terroranschläge bei den Olympischen Spielen 1972 in München kreisenden Roman „Spiele“ vorgelegt hatte, changiert in ihrer Erzählhaltung zwischen anspruchsvollen Exkursen mit wissenschaftlichem Background und flotter, leicht komödiantischer Beziehungsstory.
Irgendwann scheint die Autorin ihrer unkonventionellen Liebesgeschichte (Harriet tätowiert Peter einen Dinosaurier aufs Gesäß) nicht mehr über den Weg zu trauen. Was so anspielungsreich und hintersinnig-rätselhaft begann, versucht sie selbst (allerdings weder originell noch plausibel) aufzulösen: „Die sogenannte Liebe zerrte Menschen hinter sich her wie ein Hund Blechbüchsen, die man an seinen Schwanz gebunden hatte. Schnell und schneller rennt das Tier, die Liebenden hängen fest, suchen die Liebe, doch die rennt ja voraus, und irgendwann wirft sie die Liebenden ab.“
Am Ende steht Harriet wie eine Tragödienheldin da – gescheitert und allein auf weiter Flur. Ihr Beziehungs-Pilotversuch, bei dem man zwei Menschen gleichzeitig lieben können soll, ist erbärmlich gescheitert. Peter stirbt an einem Herzinfarkt, und Ashley geht mit seinem Sohn nach England. „Vorliebe“ bietet keine identifikationsstiftenden Figuren. Im Gegenteil – Innerlich möchte man wegschauen, weil es schmerzt und weil man sich in diesem turbulenten Beziehungschaos an irgendeiner Stelle ein klein wenig wiederzuerkennen glaubt.
|
||