Ein Blutrausch ist über die Menschen gekommen

In seinem Roman „Hasenjagd im Mühlviertel“ beschreibt Helmut Rizy die Konsequenzen der größten Widerstandsaktion im Konzentrationslager Mauthausen

Von Andreas TiefenbacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Tiefenbacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nachdem es das Ziel der Nationalsozialisten war, die „slawischen Untermenschen“ zu vernichten, haben (wie Barbara Stelzl-Marx im „Spectrum“ der Tageszeitung „Die Presse“ vom 5. Dezember 2009 schreibt) sowjetische Kriegsgefangene „am untersten Ende der rassistisch-ideologisch motivierten Gefangenenhierarchie“ gestanden. In Block 20 des Konzentrationslagers Mauthausen in Oberösterreich waren im Januar 1945 570 russische Gefangene dementsprechend nicht nur täglich den Repressalien der SS-Wachen ausgeliefert, sondern es bestand die feste Absicht, sie im Rahmen der „Aktion K“ zu liquidieren.

In der Nacht vom 1. auf den 2. Februar 1945 gelang 419 von ihnen die Flucht, aber „nicht einmal 20“ überlebten; was vor allem daran lag, dass man überall verbreitete, es handle sich bei den Flüchtigen um „gefährliche Schwerverbrecher […], Plünderer (und) Mörder“, die man auf „ausdrücklichen Befehl […] sofort an Ort und Stelle liquidieren“ könne. Das führte zu einer regelrechten Treibjagd, an der neben dem Volkssturm und der HJ auch der „braune Gausturm“ beteiligt war.

Nach dem Krieg liefen „gegen Verantwortliche wie Täter“ Prozesse. Verurteilt wurde aber nur der, dem man tatsächlich einen Mord oder […] die direkte Beteiligung daran“ nachweisen konnte. Viel wurde verschwiegen, „eine Reihe von Morden“ erst gar nicht angezeigt. Selbst den Rettern und Geretteten lag mehr daran, über das Geschehene zu schweigen. Und auch „das offizielle Österreich“ trug „recht wenig“ zur Erhellung des Ganzen bei.

Als Jahre später Peter Kammerstätter „an seinem damaligen Arbeitsplatz Kollegen nicht glauben wollten, dass dies alles tatsächlich“ passiert sei, begann er, „Aussagen von Menschen, die an der Verfolgung beteiligt waren oder zusehen mussten, und solchen, die Hilfe gaben“, zu sammeln. Aus dem umfangreichen Material, das dabei zusammengekommen ist, fertigte er bis 1979 ein 330 Seiten umfassendes Typoskript an, das den Titel „Der Ausbruch der russischen Offiziere und Kommissare aus dem Block 20 des Konzentrationslagers Mauthausen am 2. Februar 1945“ trägt und sich im oberösterreichischen Landesarchiv befindet. Helmut Rizy hat es als Grundlage für seinen ersten Roman „Hasenjagd im Mühlviertel“ verwendet, der 1995 erschien und nun, 13 Jahre später, neu aufgelegt worden ist.

Ohne Kammerstätters „umfassendes Bild“ hätte Rizy, wie er in der informationsreichen Nachbemerkung zum Buch festhält, diesen „Roman einer Gegend“ gar „nicht […] schreiben können“. Mit gutem Grund. Schließlich ist der Text ganz auf die lokalgeschichtlichen Abläufe fokussiert; darauf, welche Auswirkungen diese größte Widerstandsaktion im Konzentrationslager Mauthausen gehabt hat, die Rizy unter Einbeziehung der für diesen Raum typischen milieubedingten Verhaltensweisen und sprachlichen Besonderheiten akribisch nachzeichnet. Dabei entsteht das schillernde Bild einer ländlichen Gesellschaft, einer bestimmten Region und ihrer Bewohner, die von den nationalsozialistischen Herrschaftsmechanismen zwischen Denunziantentum und Nächstenliebe regelrecht zerrieben werden. Hier der menschenverachtende Rassenwahn, der halb verhungerte, jämmerliche Gestalten, die „sich kaum noch auf den Füßen halten“ können und (nachdem sie „nur mehr Haut und Knochen“ sind) aussehen „wie die Gespenster“, bloß weil sie Kleidung und Essen entwenden, zu Schwerverbrechern macht, die „gejagt werden (müssen) wie die Hasen“; dort der Respekt vor jedem Individuum, dem man – „wenn es darauf ankommt“ – widerspruchslos Hilfe leistet, auch wenn das „unter Umständen schon die Todesstrafe bedeuten, zumindest Gefängnis und Lager“ heißen kann.

Entsprechend weit gefasst sind daher auch die Blickwinkel, aus denen die 22 Kapitel des Romans wechselweise berichten. Sie führen eine ganze Reihe von Menschen vor, die nicht nur in Herkunft und Denkweise, sondern auch in ihren Gefühlen und Neigungen stark divergieren. Ihre Beweggründe, sich an dieser „blutige(n) Jagd auf Menschen“ zu beteiligen oder sich ihr auf die eine oder andere legale Art zu entziehen, stehen im Mittelpunkt der Handlung. Es gibt „kaum jemanden“, dem „nicht ein Gewehr in die Hand gedrückt“ worden ist, um an den Suchaktionen teilzunehmen. Die Mehrzahl findet sich „widerspruchslos mit allem ab“, denn vor den Männern der SS „hat jeder eine Heidenangst“, weil sie jeden schikanieren, „der ihnen nicht zu Gesicht steht“. So sehen viele kaum „eine Möglichkeit […], sich aus all dem herauszuhalten“ und nehmen die Vorfälle „wie selbstverständlich hin“. Selbst „treue Kirchgänger“ ziehen mit Flinten herum und schießen auf Menschen, „die ihnen nichts getan haben“.

Die totale Verrohung basiert auf einem allgemeinen Misstrauen, auf dem Druck, den das totalitäre Regime ausübt und der, je näher die Front rückt, zunimmt. Im Zuge der Jagd nach den entflohenen russischen Kriegsgefangenen werden auch die Menschen der Gegend durchleuchtet und eine Vielzahl von Bauernhöfen durchsucht. Denn natürlich wird auch fleißig denunziert, weil man darin eine Chance sieht, an Haus und Hof eines anderen zu gelangen.

Indem die Nazis „es geschafft haben, jeden gegen jeden auszuspielen“, schrecken die meisten davor zurück, sich noch auf irgendwen „zu verlassen“. Zumal alle aufgerufen sind, ihre „Pflicht zu tun“, gehen aus Angst viele „mit diesen Gottlosen zusammen“, werden zu Mitläufern, die mit den Nazis „Jagd auf die Ausbrecher machen und sie auch umbringen, wo sie sie treffen“. Entsprechende Parolen sorgen dafür: „Dieses Ungeziefer muss man in den Arsch treten, heißt es pausenlos“. Nur die wenigsten wagen es, sich nicht an den Aktionen zu beteiligen, darunter der eine oder andere Arbeiter, Bauer oder Knecht.

Dort sind es ideologische Vorbehalte, da christliche Motive, die das Fundament der Verweigerung bilden. Einzelne ringen sich, ungeachtet der Lebensgefahr, die sie sich und ihren Angehörigen dadurch aufhalsen, dazu durch, manch einen der Geflohenen im Rübenkeller, Heustadel, einem Verschlag oder sonst einem sicher scheinenden Ort „zu verstecken“. Schließlich ist es „die Pflicht eines guten Christen […], einem Menschen das Leben zu retten“. Die Mehrheit ist dafür zu feige, hat sich von „heut auf morgen (lieber) kalt und herzlos“ machen lassen, zumal das besser ins Bild der Nationalsozialisten passt, denn: „Hart wie Krupp-Stahl, so sollen die Menschen […] sein“.

Dass dieses Ideal falsch ist, führt Helmut Rizy auf 377 Romanseiten in beeindruckender Weise vor. Und in Kapitel 18 bringt er es dann auch noch adäquat auf den Punkt, als die Frau des Bauern Franzmaier darüber spekuliert, wie hart man eigentlich sein muss, „dass man in diesen Zeiten nicht zu weich ist“. Dabei stellt sich ihr die Frage, ob jene, die es bis zur Krupp-Stahl-Härte bringen, „dann aber noch Menschen (sind)? Oder sind sie dann Panzer und Kanonen?“

Das sind sie wohl: Panzer und Kanonen. Denn „ein Blutrausch ist über die Menschen gekommen“. Gemeint ist an dieser Stelle vor allem die Jagd auf die russischen Kriegsgefangenen, die tatsächlich zum Blutbad ausartet: „Der Schneematsch auf den Straßen färbte sich mit dem Blut der Erschossenen“ (so Johann Kohut in „Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen“ von Hans Marsálek).

Helmut Rizy berichtet von diesen Auswüchsen in seinem Roman „Hasenjagd im Mühlviertel“ detailreich und historisch genau. Und egal von welcher Position aus er gerade erzählt, von der des Jungbauern, der Ostarbeiterin, des alten Knechts oder des Paters, Rizy tut dies mit großem Einfühlungsvermögen, mit sachlicher Stringenz und schnörkelloser Klarheit. Er schafft einen vielschichtigen ruralen Kosmos, dessen Authentizität nicht nur besticht, sondern aufwühlt und schockiert; umso mehr, wenn man liest, dass da Männer einfach „durch die Gegend latschen […], um irgendwelche Leut abzuknallen, die (ihnen) nichts getan haben“; ja schlimmer noch, dass es manchen sogar Spaß macht, „die Häftlinge zu schlagen, zu treten, auf jede Art zu quälen“.

Solche Wahrheiten schaffen Beklommenheit. Es beginnt einen zu Frösteln. Aber es ist ja auch Winter im Roman. Eisige Kälte herrscht um alle Menschen herum. Bei vielen bis hinein ins Herz.

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Helmut Rizy: Hasenjagd im Mühlviertel. Roman einer Gegend.
Edition Art & Science, Wien 2008.
392 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783902157409

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