Teekessel, Geld und Poesie

Rainer Maria Rilkes Briefwechsel mit Eva Cassirer – eine Edition mit kulturgeschichtlichem Mehrwert

Von Jörg SchusterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Schuster

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rainer Maria Rilke gehört zu den Autoren, die noch Jahrzehnte nach ihrem Tod den Buchmarkt durch mehr neue Publikationen bereichern als mancher Gegenwartsautor; fast unermesslich scheint insbesondere die Zahl an Briefwechseln, die aus dem Nachlass publiziert werden. Dabei handelt es sich nicht um Dokumente, die ausschließlich von literaturgeschichtlichem oder biografischem Interesse wären, sondern um Texte, die auch für ein größeres Publikum eine reizvolle Lektüre darstellen. Rilke selbst sah seine Briefe als eine Art ‚Werk neben dem Werk‘: „Da ich, von gewissen Jahren ab, einen Theil der Ergiebigkeit meiner Natur gelegentlich in Briefe zu leiten pflegte, steht der Veröffentlichung meiner […] Correspondenzen […] nichts im Wege“, verfügte er in seinem „Letzten Willen“.

Rilkes Korrespondenz mit Eva Cassirer ist insofern untypisch, als die Briefpartnerin, wie die Herausgeberin Sigrid Bauschinger bemerkt, „weder Aristokratin, noch Künstlerin noch Geliebte“ war. Cassirer entstammte dem Berliner jüdischen Großbürgertum, ließ sich im Pestalozzi-Fröbel-Haus in Berlin zur Kindergärtnerin ausbilden und wirkte später als Lehrerin an der reformpädagogisch ausgerichteten Odenwaldschule, die von ihrem Schwiegervater Max Cassirer finanziert und von ihrem Schwager Paul Geheeb geleitet wurde. Der Kontakt zum von ihr bewunderten Dichter Rainer Maria Rilke wurde 1904 durch die Pädagogin Ellen Key hergestellt; sie beauftragte die damals Neunzehnjährige, Weihnachtsgeschenke für Rilke und seine Familie zu besorgen.

In ihrem Charakter zwischen intellektuell-literarischem Austausch und Lebenshilfe gleicht die Korrespondenz aber vielen anderen Briefwechseln des Dichters. Insbesondere die frühen Briefe zeichnen sich durch den typisch Rilke’schen Brief-Sound aus; sakral-poetisch heißt es bereits im ersten Brief vom 29. Dezember 1904: „Ich danke Ihren Händen und Ihnen; Ihre Worte und Wünsche möchte ich mit einem Segnen erwidern (könnte ich es); und von Ihrem wachsenden Leben, von dem ich nun weiß, möchte ich nicht wieder die Spur verlieren.“

Doch nicht nur die Briefe der jungen Frau werden Rilke, wie er im Januar 1913 schreibt, zur „Nahrung“. Bald schon mündet der pädagogische Rat, den er für seine Tochter Ruth einholt, in großzügige finanzielle Unterstützung für sie. Schließlich gehen Zahlungen auch „sänftiglich“ auf Rilkes eigenem „Conto“ (11.2.1914) ein, und auch mit einem Teekessel der „Deutschen Werkstätten“ trägt die Freundin zum Lebensambiente des Dichters bei. Die Verständigung über die Dichtung der Zeit, über Lebensprobleme wie Rilkes Entfremdung von seiner Frau Clara und über Cassirers Familien- und Arbeitsleben ebbt allerdings mit Rilkes Übersiedlung in die Schweiz 1919 ab. Die Freundin nimmt nun wieder die reine Rolle der bewundernden Leserin ein, die, etwa in der Lektüre der „Sonette an Orpheus“, große Aufmerksamkeit und ein sicheres Urteilsvermögen unter Beweis stellt.

Sind bis 1914 nur die Briefe Rilkes erhalten, so rückt durch dessen weitgehendes Schweigen nach dem Ersten Weltkrieg die Briefschreiberin Eva Cassirer in den Vordergrund. Auch der Anhang mit einem umfangreichen Materialteil und einem Nachwort der Herausgeberin widmet sich verdienstvoller Weise der „verborgenen Gönnerin“. Schlaglichtartig werden dadurch wichtige Facetten des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens der Zeit beleuchtet – von der intellektuellen Atmosphäre des jüdischen Großbürgertums in Berlin über die reformpädagogischen Konzepte der Odenwaldschule bis hin zum Ende dieser Welt progressiv-toleranten Engagements und Mäzenatentums im Jahr 1933. In ihrem Verhalten gegenüber Eva Cassirer erscheinen dabei einige der Vertrauten Rilkes, die sich nach dessen Tod teilweise zu einem Freundeskreis zusammengeschlossen hatten, nicht im besten Licht. Von seiner Tochter Ruth wird ihr, wie sie selbst berichtet, aufgrund ihrer jüdischen Abstammung der Zugang zum Rilke-Archiv verwehrt, und selbst Lou Andreas-Salomé und Regina Ullmann disqualifizieren sich im Umgang mit ihr.

Die Edition, die ebenso kenntnisreich wie zurückhaltend kommentiert ist und sich zudem durch eine sehr ansprechende Druckgestalt auszeichnet, liefert somit eine neue Sicht nicht so sehr auf den Dichter-Briefschreiber Rilke, aber auf einen Teil seiner Rezeptionsgeschichte und auf einige noch immer zu wenig beachtete Aspekte des intellektuellen Lebens im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts.

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Sigrid Bauschinger (Hg.): Rainer Maria Rilke - Eva Cassirer. Briefwechsel.
Wallstein Verlag, Göttingen 2008.
400 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783835302280

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