Grenzgänge zwischen den Künsten

Ulrike Weymann untersucht Spaziergängertexte von Peter Weiss, Thomas Bernhard und Peter Handke im Hinblick auf ihre intermedialen Implikationen

Von Christine HermannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christine Hermann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In dieser 2005 als Dissertation vorgelegten Studie werden drei Werke untersucht, die das „Gehen“ thematisieren, und ihre Bezüge zu anderen medialen Ausdrucksformen aufgezeigt. Die Beziehung zwischen Gehen und Erinnern wird anhand Weiss’ „Gespräch der drei Gehenden“ erforscht. Die Analyse von Bernhards Erzählung „Gehen“ steht unter dem Motto Gehen und Denken. Handkes „Die Lehre der Sainte-Victoire“ exemplifiziert das Verhältnis von Gehen und Sehen. In allen drei Texten fungiert die Gehbewegung als Auslöser für Denk- und Erinnerungsbewegungen.

Weymann geht von der These aus, dass die Autoren „aufgrund sprach- und erzähltheoretischer Zweifel“ (bei Weiss und Bernhard aufgrund der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs, bei Handke ästhetisch motiviert) in ihren Spaziergangstexten Bezüge zu Ausdrucksformen anderer Medien herstellen. Sie versteht damit die untersuchten Werke als poetologische Texte. Nach Weymann führen die sprachreflexiven Überlegungen der Autoren zu neuen Narrationsverfahren, indem die Strukturen eines anderen Mediums im eigenen thematisiert und teilweise reproduziert werden. Strukturhomologien werden deutlich gemacht und durch Aussagen der Autoren gestützt.

Das Gehen steht also für die Suche nach gelungener sprachlicher Kommunikation. Bei Peter Weiss handelt es sich bei den sich dabei manifestierenden intermedialen Bezugnahmen um solche auf den Film und die Malerei. Thomas Bernhard verwendet die Sprache als Klangmaterial und erzeugt so „musikaffine Sprachstrukturen“, und Peter Handke verweist auf die bildende Kunst. Der literarische Gang gestaltet sich also in allen drei Texten zu einem Grenzgang zwischen den Künsten.

Jedem der drei Texte ist ein ausführliches Analysekapitel gewidmet. Der einführende theoretische Teil ist mit knapp 24 Seiten etwas kurz geblieben. In einem Schlusskapitel werden auf rund 40 Seiten die Ergebnisse der Einzelanalysen in der Intermedialitätsforschung verortet und die intermedialen Bezüge in den drei behandelten Werken vergleichend zusammengefasst.

Bei Weiss wird der Spaziergang als Lebensweg gesehen, der Erinnerungsbilder hervorruft. Die Erinnerungen scheinen, ebenso wie die gehenden Erzähler, in Bewegung zu sein – sie sind keine sicheren Fakten, sondern werden später revidiert.

„Das Gespräch“ wird in den Kontext des malerischen und filmischen Oevres von Weiss gestellt, Überschneidungen in den künstlerischen Verfahren werden aufgezeigt. Nach Meinung der Verfasserin beeinflusst das bildkünstlerische Schaffen das literarische Werk von Weiss in Motivik und Technik. Anhand des „epischen Darstellens“ in der bildenden Kunst (mehrere Handlungsstränge werden synchron dargestellt) und des „visuelle Erzählens“ in der Prosa erläutert sie die Durchdringung der beiden Medien in seinem Werk. Sie zeigt auf, wie Weiss in seinen Texten dieselben Verfahrensweisen wie im Avantgardefilm verwendet (wie etwa die Überblende-Technik, Montagetechnik). Die erinnerten Erlebnisse werden z.B. aus immer neuen Blickwinkeln präsentiert und mit harten Schnitten gegeneinander abgesetzt. Die filmanaloge Montagetechnik eignet sich besonders gut, um die diskontinuierliche Erinnerung zu versprachlichen.

Weiters wird die aus der Exilerfahrung resultierende Sprachskepsis von Peter Weiss anhand von Lacans Theorie dahingehend interpretiert, dass das erzählende Ich versuche, sich der symbolischen Ordnung der Sprache zu entziehen. Das Werk dokumentiere eine Sprachkrise und die Suche nach einem Ausweg. Damit wird der Text als ein poetologischer Text gelesen, der „die Suche nach einer neuen Form des Schreibens“ demonstriert, wobei der ziellos herumirrende Spaziergänger als Sinnbild für den suchenden Schriftsteller gesehen wird.

Wie Peter Weiss versucht auch Thomas Bernhard, das Ungenügen der Sprache sowie gewisse Erfahrungen unvermittelt auszudrücken, und schließlich durch die Annäherung an andere Medien auszugleichen. Im Zentrum der Interpretation steht hier die Figur der Wiederholung als kompositorisches Prinzip. Bei Bernhard zeichnen die Spaziergänge das wiederholende, kreisförmige Denken nach: die Flaneure inszenieren, wovon sie sprechen.

Bernhard versucht, durch Wiederholungen und Paraphrasen von Wörtern und Sätzen die Bedeutung des sprachlichen Zeichens auszulöschen. Dieses Phänomen lässt sich auf verschiedenen Ebenen der Erzählung nachweisen: auf der histoire-Ebene (die Spaziergänger wiederholen Erlebtes in der Rede) und auf der discours-Ebene (Erzählweise, Syntax, Lexik). Durch die Wiederholungsstruktur und die Aufwertung des rhythmischen und klanglichen Aspekts der Sprache nähert sich der Text musikalischen Strukturen an. Im Speziellen erläutert Weymann anhand der Wiederholungsfigur Korrespondenzen zwischen Text und musikalischen Kompositionstechniken der absoluten Musik.

Handkes literarische Gänge sind Erkundungsgänge, die dem Entwerfen von Lebensmöglichkeiten dienen. Dabei setzt sich Handke mit der Ästhetik Cézannes auseinander. Auch dieser Text wird durch eine Krise der Wahrnehmung und eine Sprachkrise motiviert. Handke strebt danach, durch bewusste sprachliche Gestaltung einen neuen Blick auf die Dinge zu ermöglichen. Dafür orientiert er sich an der bildenden Kunst, insbesondere der Bildästhetik Cézannes, die er auf sein Schreiben zu übertragen versucht: durch die Montage von Textzitaten und die Wiederaufnahme von Wortfeldern entsteht der Zusammenhang der Textelemente. Dass Handke statt einer linearen Handlung ein Geflecht aus intertextuellen und intermedialen Bezügen erstellt, interpretiert Weymann also als Assimilation der Modulationstechnik Cézannes. Analog zur Weise, wie Cézanne durch die Farben den Zusammenhang der Dinge herstellt, sieht die Verfasserin die „gebündelten Diskurse“, die bei Handke zu einer Texteinheit und einem „intermediale[n] Beziehungsgeflecht“ zusammengesetzt werden.

Alle drei literarischen „Gänge“ erscheinen als intermedialer Grenzgang zwischen den Künsten. Weymann konstatiert „neue Formen des Erzählens“ in den literarischen Textverfahren der behandelten drei Autoren. Durch ihre Ausrichtung an fremdmedialen Ausdrucksformen werden neue Möglichkeiten der Bedeutungskonstitution geschaffen.

Im Abschlusskapitel werden die intermedialen Bezüge in den drei Texten nochmals aufgegriffen und vergleichend diskutiert. Diesem Schlusskapitel ist ein theoretischer Teil vorangestellt, in dem das Konzept der Intermedialität anhand eines kurzen Forschungsüberblicks diskutiert und die dabei erarbeitete (und auch in der vorliegenden Studie verwendete) Terminologie erklärt wird. Es ist fraglich, ob dieser Teil nicht weiter vorne im Buch einen besseren Platz gefunden hätte.

Für jeden Autor wird sehr klar und strukturiert zusammengefasst, wie intermediale Bezüge zum Ausdruck kommen, gestützt auf Eigenaussagen der Autoren und belegt mit Textbeispielen (dabei bleiben jedoch die einzelnen Werkinterpretationen im Wesentlichen nebeneinander stehen, vergleichende Querverweise fehlen zumeist). Bei Bernhard werden musikanaloge Strukturen in der Literatur, bei Handke die literarische Bezugnahme auf die bildende Kunst, bei Weiss auf filmische Verfahren festgestellt.

Diese Konstatierungen sind nicht neu. Neu ist jedoch die Verbindung mit der Sprachskepsis und Sprachkritik der Autoren. Der Zusammenhang zwischen den „intermedialen Grenzgängen“ und dem Motiv des Gehens tritt dabei eher in den Hintergrund. Die Gehbewegung wird jedoch durchaus als Suchbewegung nach adäquaten Ausdrucksmöglichkeiten mit der Sprachskepsis in Verbindung gebracht, neue Ausdrucksmöglichkeiten werden in Anlehnung an fremdmediale Ausdrucksformen gefunden. Den roten Faden bildet also eher die Sprachskepsis, die einerseits auf die Thematik des Gehens (als Such-, Denk-, Erinnerungsbewegung) zurückgreift und andererseits eine Lösung in intermedialen Bezügen und Anlehnung an Ausdrucksformen anderer Medien findet.

Weymanns ambitiöse Arbeit kombiniert verschiedene Untersuchungsansätze und Forschungsfragen: den Topos des Spaziergangs, Intermedialität, und eine sprachanalytische Fragestellung. Damit setzt sie sich unweigerlich auch der Gefahr einer Zersplitterung aus. In den Analysen kommen viele Aspekte zur Sprache, deren Zusammenhang nicht immer gleich klar ausformuliert ist. Die verschiedenen Ansätze scheinen manchmal eher unverbunden nebeneinander stehenzubleiben. Der Fokus verschiebt sich im Laufe der Arbeit auf die Sprachskepsis als verbindendes Element zwischen dem „Gehen“ und der Intermedialität: die Suche nach einer alternativen Sprache wird versinnbildlicht durch die Textbewegung und kommt in der Ausrichtung auf fremdmediale Techniken zum Ausdruck.

Die Denkbewegung vom Motiv des „Gehens“ in den Spaziergängertexten zur Sprachskepsis, und von da zu neuen sprachlichen Ausdrucksformen in Anlehnung an andere Medien wird nachvollziehbar und klar dargelegt. Eine abschließende Rückkoppelung an den Ausgangspunkt, das „Gehen“, hätte diese Studie über intermediale Grenzgänge aber wohl noch kohärenter gemacht. Die ausführlichen Einzelanalysen rücken jedoch zu Recht eine Reihe aufschlussreicher neuer Zusammenhänge ins Blickfeld und machen diese Studie zu einer lesenswerten Lektüre für alle, die an Intermedialität interessiert sind.

Titelbild

Ulrike Weymann: Intermediale Grenzgänge. "Das Gespräch der drei Gehenden" von Peter Weiss, "Gehen" von Thomas Bernhard und "Die Lehre der Sainte-Victoire" von Peter Handke.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2007.
320 Seiten, 47,00 EUR.
ISBN-13: 9783825352387

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