Variationen zu einem neuen Menschenbild
Helen Fehervary und Bernhard Spies haben Anna Seghers Erzählungen zwischen 1958 und 1966 herausgegeben
Von Manfred Orlick
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie in dem vorliegenden Band der Werkausgabe von Anna Seghers versammelten Erzählungen entstanden zwischen 1957 und 1965. Das war eine politisch brisante Epoche für die junge DDR, ausgelöst von den Erschütterungen, die Nikita Chruschtschow mit den ersten Enthüllungen über die Stalin-Verbrechen auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 in Gang gebracht hatte. Danach war es im sozialistischen Lager zu ersten Protesten und Unruhen gekommen. Auch in der DDR gab es hitzige Debatten über mögliche Reformen.
Trotz ihrer öffentlichen Zurückhaltung gingen die Auswirkungen dieser politischen Ereignisse in jedes ihrer Werke ein, die Anna Seghers in dieser Zeit verfasste. In ihren Kurzgeschichten konnte die Schriftstellerin viel persönlicher und flexibler auf die politischen Krisen Ende der 1950er- und Anfang der 1960er-Jahre eingehen als in ihren stark beachteten Romanen.
Den Anfang des Bandes macht die Erzählung „Brot und Salz“, die während des Ungarn-Aufstandes im Oktober 1956 spielt. Sie wirkt auf den ersten Blick staatstreu, lässt aber auch eine hintergründige Interpretation zu. Danach folgt „Vierzig Jahre der Margarete“, ein Lebensbericht einer gealterten Kommunistin, die ein Leben voller Entbehrungen auf sich genommen hat. Am Ende lässt die Autorin offen, ob sich die ganzen Leiden gelohnt haben.
In „Das Licht auf dem Galgen“ beleuchtete Anna Seghers die Hoffnung auf Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die am Ende aber durch Verrat erstickt wird. Obwohl die Erzählung während eines Sklavenaufstandes auf der Karibikinsel Jamaica spielt, wollte die Autorin darin wohl den Verrat der deutschen Kommunisten an ihren jüdischen Genossen anklagen.
Der Zyklus „Die Kraft der Schwachen“ (1965) umfasst neun Geschichten und gehört zu den populärsten Werken der älteren Anna Seghers. Hier fand die Autorin wieder zu früherer, poetischer Erzählkunst zurück. In den Kurzgeschichten stellte sie einfache, unauffällige Menschen vor, die sich im Alltag bewähren und sich tapfer der jeweils politischen Wirklichkeit widersetzen. Ihr Handeln wird von Gerechtigkeitssinn und der Fürsorge für andere bestimmt. Die verschiedensten jüdischen und christlichen Grundsätze ziehen sich wie ein roter Faden durch die Geschichten.
In der bekanntesten Geschichte dieses Zyklus „Agathe Schweigert“ erzählt Seghers von einer weltfremden und zunächst völlig unpolitischen Frau, die einen winzigen Kurzwarenladen betreibt. Als ihr Sohn vor den Nazis flieht, folgt sie ihm nach Spanien. Sie kommt jedoch zu spät, der Sohn ist im Bürgerkrieg gefallen. Agathe arbeitet zunächst in einem Krankenhaus, die anschließende Flucht um den halben Erdball bringt sie bis nach Südamerika.
Agathe Schweigert steht exemplarisch für die unscheinbaren Helden und Heldinnen dieser Erzählungen: Ihre Person und ihr Leben wird von den anderen kaum wahrgenommen, erst Seghers zeigt ihr ungewöhnliches Leben und ihre Menschlichkeit. Auch in den anderen acht Geschichten müssen sich die Menschen in schwierigen Situationen bewähren – die vor ihnen stehenden Aufgaben erfordern all ihre Kräfte, und sie müssen dabei wichtige Entscheidungen treffen.
Der Anhang des Sammelbandes bringt abschließend noch drei unveröffentlichte Erzählungen, die Anna Seghers in keinen ihrer Erzählzyklen aufgenommen hat. Trotz mehrfacher Überarbeitungen konnte sie sich nicht für einen Druck entschließen. „Der gerechte Richter“ – 1957, erst nach der Wende veröffentlicht – ist eine Antwort auf den Schauprozess gegen den Verleger Walter Janka und Seghers Absage an den Sozialismus stalinistischer Prägung. Zugleich schwächte sie jedoch ihre Kritik mit Hinweisen auf die besonderen Umstände in der DDR ab.
Anna Seghers versuchte in den Jahren 1957 bis 1965, einerseits den revolutionären Umbruch im Nachkriegsdeutschland zu gestalten und andererseits Nächstenliebe und menschliche Würde darzustellen. Während sie in ihren Roman diese Themen streckenweiße nur referierte, waren ihre Erzählungen literarische Versuche, der neuen Wirklichkeit auf die Spur zu kommen und die dabei auftretenden Probleme mit prosaischer Bildhaftigkeit aufzuspüren.
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