Die Magmakammer der Erinnerung

Dieter Richters Geschichte des berühmtesten Vulkans in Europa

Von Arnd BeiseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Arnd Beise

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Hieronymus Megiser 1588 den Vesuv bestieg, war der Vulkan längst erloschen. Trotzdem war er der berühmteste seiner Art, weil vor Zeiten „sehr viel der alten Scribenten, sowohl Griechen und Latiner“ seiner „inn ihren Schrifften gedacht“ hätten, wie es in Megisers „Delitiae Neapolitanae“ heißt, die 1605 erschienen. Allenfalls also als Gegenstand des Lateinunterrichts verbreitete der Berg Anfang des 17. Jahrhunderts noch Schrecken, tatsächlich schien er ein fruchtbarer Obst- und Weingarten zu sein, „herrlich und gut“, wie ihn Doktor Faustus auf seinen Reisen fand.

Am 16. Dezember 1631 aber explodierte der „liebliche Vesuvius“ erneut. Es ist die erste Naturkatastrophe mit einer gesamteuropäischen Resonanz, eine herrliche Bußpredigt über das sündige Leben, der Beginn des modernen Katastrophen-Tourismus, Anlass zur Entstehung der modernen Vulkanologie und eine literarische Herausforderung ersten Ranges. „Im Augenblick der Katastrophe steht das Bild der Welt, auch das Bild der eigenen Existenz, auf dem Prüfstand.“

Der Kulturhistoriker bemerkt mit Interesse, dass es den Menschen angesichts der Katastrophe die eigene Sprache verschlägt; ihr Erleben war real und zugleich deutlich textuell vorgeprägt. Plinius der Jüngere mit seiner Beschreibung des seinerzeit letzten Ausbruchs dieses Ausmaßes im Jahr 79 nach Christus und die Bibel geben die sprachlichen Muster vor, mit denen man das Grauen der vulkanischen Eruption zu fassen suchte. Wahrscheinlich lehnte sich bereits Plinius an mythologische Erzählungen von einem Ausbruch an, der rund 1. 700 Jahre zuvor geschah, welche oral von Generation zu Generation weitergegeben wurden, auch dann noch, als der Vulkan längst wieder erloschen schien.

Die Rationalisten des 17. Jahrhunderts aber lehnten mythologische, astrologische und religiöse Verbrämungen der Katastrophe ab. Martin Opitz suchte 1633 nach den „Gründen der Natur“, die zum Vulkanausbruch führten. Bereits ein Jahr zuvor war der erste „Katastrophenschutzplan“ publiziert worden: auf einem noch heute in der Via Gragnatello zu Portici stehenden Stein mit einer lateinischen Inschrift, der die Vorzeichen eines Ausbruchs des Vulkans benennt („er wird erschüttert und erschüttert selbst den Boden, er raucht, er blitzt, er wirft Flammen, er bewegt die Luft, er dröhnt schrecklich, er brüllt, er donnert“) und die noch heute einzig richtige Maßnahme empfiehlt: „Emigra dum licet!“ Lauf fort, solange es noch geht. „So du klug bist, höre diesen dir rufenden Stein! Kehre dich nicht an den Haus, nicht an den Vermögen! Zögere nicht, fliehe!“

Kaum aber kommt der Berg zur Ruhe, kommen die Menschen zurück. 1794 zerstörte ein Lavastrom bei dem nächsten großen Ausbruch das am Fuße des Vulkans gelegene Torre del Greco. „Ein Theil der Stadt blieb stehen, und es wird nicht lange dauern“, so heißt es in einem zeitgenössischen Bericht, bis im anderen Teil „wieder neue Häuser auf denselben Lava Grund aufgebauet“ sein werden. „So vertraut ist der verwegene Mensch mit den grösten Gefahren, und so wenig schreckt ihn ein erlittener Verlust ab, Eins und dasselbe noch einmal zu wagen.“

Auch die Touristen kommen seit dem 17. Jahrhundert in großen Mengen. „Man hat wahrlich Mühe, diesen entsetzlichen Berg zu besteigen“, meinte 1688 Maximilien Misson – aber niemand scheute sie. Enttäuscht sind die Leute allenfalls, weil nichts zu sehen ist außer einem dünnen Rauchfähnchen. Es ist eine Lust, in den „Rachen des Feuerriesen“ zu blicken, so schrieb Friedrich Nietzsche gegen Ende des 19. Jahrhunderts, weil dies dem „Blick in die dunklen Abgründe der menschlichen Seele“ gleiche. „Wir sind alle wachsende Vulkane, die ihre Stunde der Eruption haben werden – wie nah oder wie ferne diese ist, das freilich weiß niemand.“

Als Nietzsche 1876 den Vesuv besuchte, war der Berg nur noch ein Vulkan unter anderen geworden, und nicht einmal ein besonders beeindruckender. Der Weltreisende Alexander von Humboldt hielt 1823 den, wenn auch „pittoresken Hügel“ für ziemlich überschätzt; den Vesuv als Typus für den Vulkan schlechthin zu nehmen, erinnere „mit Recht an Virgils Hirten“, der „in seiner engen Hütte das Vorbild der Ewigen Stadt, des königlichen Roms zu sehen glaubte“. Immerhin aber war dieser Hügel bald der bestüberwachte Vulkan der Welt. Seit 1845 wachen die Vulkanologen des Osservatorio Vesuviano über den Berg und konnten den letzten großen Ausbruch auch voraussagen, weil sie die Anzeichen richtig deuteten. Allerdings fand der damalige Direktor Giuseppe Imbò im März 1944 kein Gehör, da die Gegend von einer ganz anderen Katastrophe heimgesucht wurde. Die gleichzeitige Schlacht um den nahe gelegenen Monte Cassino gehört zu den blutigsten des Zweiten Weltkriegs und kostete mehr Menschen das Leben als jeder Ausbruch des Vesuvs bisher.

All das sind Schlaglichter auf die Kulturgeschichte eines Bergs, der wie wenige die europäische Fantasie seit alters her beschäftigte. Den Vulkan selbst nannte Goethe seinerzeit einen „Text“, den zu „zu kommentieren“ selbst „Jahrtausende nicht hinreichen“ würden. Dieter Richter gibt uns nun auf rund 200 Seiten einen Kommentar in Form eines langen, locker gebauten Essays, der durch eine schöne Auswahl von Bildern und literarischen Texten ergänzt wird. In dem Band wird die faszinierende Geschichte dieses besonderen Bergs seit der Bronzezeit mit urbaner Leichtigkeit erzählt, und nur gelegentlich geht dem Autor der Pegasus durch, etwa wenn er über „das helle Rot der blutenden Madonnen, das rätselhaft aus unergründlichen Tiefen der Seele strömt“, ins Schwärmen gerät. Dafür entschädigt er uns aber auch mit Übersetzungen wahrer Trouvaillen, etwa dem Sonett Giambattista Basiles auf eine „Schöne Frau auf der Flucht vor dem Brand des Vesuvs“ (1631), dem ausschließlich aus V-Wörtern bestehenden „Epitaphium Montis Vesuivii“ (1632) von Pietro Grimaldi, oder dem folgenden schönen Märchen über den „Ursprung des Bergs Vesuv“ (1684) aus der Feder des neapolitanischen Bischofs Pompeo Sarnelli: „Vesuv war ein Edelmann aus Neapel, der sich in eine Dame aus der Familie Capri verliebt hatte, welche damals aus Seggio gebürtig war. Die Eltern aber wollten ihre Zustimmung nicht geben, und so sahen jene ihre Absichten in dem Maße vereitelt, in dem ihre Liebe zunahm. Die Eltern brachten jene Dame sogar fort, damit sie beim Kap Minerva ihren Aufenthalt nehme, wo sie ihren Geliebten nicht mehr sehen konnte. Da stürzte sie sich, als sie einmal eine Lustfahrt mit dem Boot unternahm, ins Meer und verwandelte sich in eine Insel, die bis zum heutigen Tag Capri heißt. Vesuv aber, kaum dass er dieses vernommen hatte, begann feurige Seufzer auszustoßen und verwandelte sich allmählich in einen Berg, der Somma [Gipfel] genannt wird. Und weil er stets seine Geliebte sieht, so glüht er noch als Berg und wirft beständig Feuer; und wenn er wütend wird, so lässt er Neapel erzittern, und die Stadt bedauert vergebens, ihm jene nicht gegeben zu haben, die er begehrte“.

Titelbild

Dieter Richter: Der Vesuv. Geschichte eines Berges.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2007.
215 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-13: 9783803136220

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