Slawische Spolien

Klaus Piperek vermisst die „Welt der Slawen“ Arno Schmidts

Von Daniel KrauseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Krause

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Mit den Vorarbeiten zu diesem Handbuch habe ich bereits 1985 begonnen. Mancher Artikel ist inzwischen schon sehr alt und ist es trotz kontinuierlicher Überarbeitung auch geblieben, wenn sich neue Gesichtspunkte nicht ergaben; anderes hingegen ist erst neueren Datums und konnte von mir zum Teil nicht mehr mit dem gleichen Enthusiasmus und der gleichen Zähigkeit untersucht werden wie Früheres.“

Fanatische Verbohrtheit scheint in der Arno-Schmidt-Gemeinde nicht zu gedeihen. (Dergleichen Nonchalance fände sich unter den Adepten von Günter Grass und Peter Handke vergleichsweise selten.) Dabei gehört nicht wenig Kampfesgeist und Tapferkeit dazu, den beinahe einzigen Avantgardisten der deutschen Nachkriegsliteratur zu verteidigen: Arno Schmidt ist ein erratischer Brocken. Leser findet er selten, anders als Vordenker James Joyce. Die Unterstützer, Jan Philipp Reemtsma darunter, Friedhelm Rathjen, die jüngst verstorbenen Hans Wollschläger und Jörg Drews sind nicht zahlreich – an Ansehen und Überzeugungskraft finden sie dennoch kaum ihresgleichen. „Bargfelder Bote“ heißt ihr Organ, der „Dechiffrierung“ Schmidt’scher Textlabyrinthe gewidmet. Gelegentlich bringt der „Bote“ Sonderbände heraus, zuletzt Klaus Pipereks Handbuch zu slawischen Einsprengseln bei Schmidt.

Piperek, von Profession Slawist und gebürtig aus Oberschlesien, hat zeit- wie kraftraubende Recherchen von beinahe erschreckender Genauigkeit angestellt. Auch muss er, was Schmidt betrifft, als Wiederholungstäter gelten, denn „Welt der Slawen“ ist nicht sein erstes Glossar zu Werken Schmidts: Das „erläuternd-kommentierende“ Handbuch über „Die Sprachlandschaften Niedersachsen und Schlesien in Arno Schmidts Roman Kaff auch Mare Crisium‘“ geht diesem Band voran. Wer solchen Aufwand treibt, darf füglich dem harten Kern der Gemeinde zugerechnet werden.

Die über 300 Einträge in „Welt der Slawen“ sind mindestens einige Zeilen, höchstens einige Seiten lang. Fortlaufender Text ist – der Gattung entsprechend – nicht zu erwarten. Hardcore-Philologie wird geboten, wie in der Anfangszeit des „Bargfelder Boten“, der zunächst, in den 1970er-Jahren, mithin noch zu Lebzeiten Schmidts, auf ‚Interpretation‘ und ‚Analyse‘ erklärtermaßen verzichtete, vielmehr am Buchstaben des Schmidt’schen Textes entlang argumentierte und damit in der Literaturwissenschaft ähnlich fremd dastand wie Arno Schmidt in der Literatur. (Solcher Glaube an die Kraft des Wortes war zuletzt nur noch unter Bibel- und Joyce-Lesern anzutreffen.)

Beinahe paradox nimmt sich das Unternehmen Pipereks aus, weil Schmidt sich um Denotation und Konnotationen der Wörter, Namen und Realien slawischer Provenienz kaum gekümmert hat, kaum kümmern konnte, zumindest nicht unter Gesichtspunkten philologischer Richtigkeit: „Den Wahrheitsgehalt seiner Exzerpierungen konnte er freilich, sofern Kenntnis der slawischen Sprachen gefordert war, nicht überprüfen. Da Schmidt nicht vorhatte, sich einen Namen als Slawist zu machen, legte er auch keinen Wert auf zuverlässige Quellen. Die Fakten, die er einstreut, repräsentieren mitunter durchaus den Stand der Wissenschaft, allerdings so ein, zwei Jahrhunderte vor seiner Zeit. Vieles ist schlicht populärwissenschaftlich. Aber in der Welt der Romane gelten andere Gesetze.“

Das thematische Spektrum der Fundstellen ist von unüberschaubarer Weite. Einziges Kriterium: slawisch. Ob Schriftsteller wie „Sienkiewicz“ oder „Dostojewski“ – diesem ist einer der umfangreichsten Artikel gewidmet –, „Russische Familiennamen“, Operettennummern („Zarewitschs Wolgalied“ von Franz Lehár), Orte und geschichtliche Stätten – kurzum schlicht alles, was im Werk Arno Schmidts zwischen Nordmeer und Adria, Antike und Gegenwart slawisch daherkommt – wird alphabetisch sortiert und mit verblüffender Akribie auseinandergesetzt: Eine Geduldsleistung ersten Ranges. Ob sich irgendein Leser die annährend 300 Seiten in einem Durchlauf zu Gemüte führen wird, ist allerdings fraglich. Philologen werden den Band als Lexikon nutzen, und die Gemeinde wird sich glücklich schätzen, einen weiteren Beleg für die allumfassende Welthaltigkeit Schmidt’scher Prosa in Händen zu halten. Der Rest der Menschheit darf sich freuen, dass es Autoren wie Piperek gibt: Philologen im ursprünglichen Sinne, die um des Wortes willen gleichsam zum Helden der Arbeit werden.

Titelbild

Klaus Piperek: Arno Schmidt und die Welt der Slawen. Kommentierendes Handbuch.
Hrsg. von Friedhelm Rathjen.
edition text & kritik, München 2010.
303 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-13: 9783869160450

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