Heimat Frankfurt

Valentin Senger überlebt eine Jugend in der „Kaiserhofstraße 12“

Von Daniel KrauseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Krause

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Valentin Senger, 1918 in Frankfurt geboren, fast achtzigjährig ebendort verstorben, hat als Sohn jüdischer Eltern, die das Russland der Zaren des kommunistischen Bekenntnisses wegen verlassen hatten, die Nazizeit in Frankfurt überlebt und Deutschlands Wiederaufbau als Journalist, unter anderem beim Hessischen Rundfunk, durch Jahrzehnte begleitet. Mit seinen Kindheits- und Jugenderinnerungen „Kaiserhofstraße 12“, 1978 erschienen, wenig später fürs Fernsehen verfilmt, hat Senger jenen zwölf Jahren, wie er sie erlebte: unter dauernder Lebensgefahr, ein ‚Denkmal gesetzt‘ und eine späte literarische Karriere, die meistens jüdisch-deutsche Belange zum Gegenstand hatte, begonnen.

Diese Redeweise enthält nun einen falschen Zungenschlag, denn monumental und heroisch, pathetisch überhöhend, verklärend, literarisch ambitiös ist an Sengers Erinnerungen nichts. Nichts wird erklärt, niemand gerechtfertigt oder verurteilt – Senger ‚beschreibt‘ und ‚gibt Zeugnis‘, in bemerkenswert sachlicher, manchmal verstörend zurückhaltender Weise, die der Glaubwürdigkeit seiner Erinnerungen zweifellos zuträglich ist, der Breitenwirkung und popkulturellen Verwertbarkeit wiederum nicht. Ein anonymer Amazon-Kunde schrieb über die Buchausgabe: „[…] ich war eher enttäuscht von diesem Buch, weil es überhaupt nicht tragisch geschrieben war. […] Valentin Senger bringt die damalige Situation nicht hautnah rüber.“

Tatsächlich kann Sengers Bericht auf den Leser seltsam alltäglich wirken, trotz unwahrscheinlichster, Leben rettender Zufälle: Die Familie führt ein nach außen hin bürgerlich anmutendes Leben. Dass Senger schildert, wie es war, und diese Schilderungen nicht durchwegs auf dieselbe „hautnahe“ Weise entsetzen wie das Tagebuch Anne Franks, deren Familie aus Frankfurt nach Holland geflohen war und ebendort den Schergen in die Hände fiel, kann dem Autor nicht zum Vorwurf gemacht werden. Es ist dem Leser aufgegeben, „Tragisches“ in einem Alltag aufzuspüren, der jederzeit mit Folter- und Todesdrohungen belastet war, die mehrfach akut wurden. Die topografisch genauen Schilderungen – der Titel: „Kaiserhofstraße 12“ ist in dieser Hinsicht bezeichnend – rücken das Geschehen nahe an den Leser heran. Die Straßennamen sind heute dieselben wie damals: Ob es die Novemberpogrome 1938 betrifft oder Gestapoverhöre des Vaters – dem Leser wird wie im Vorübergehen spürbar, dass sich all dieses nicht jetzt, aber vor kurzem erst und genau hier, inmitten deutscher Lebenswelten, zugetragen hat.

Dass dieses Zeugnis nicht ins ‚kulturelle Gedächtnis‘ der Deutschen aufgenommen wurde – obwohl es vordergründig hätte taugen können, den Glauben ans ‚Gute im Deutschen‘ zu stützen – an jene Frankfurter, die Sengers Familie nicht denunzierten – mag dem Umstand geschuldet sein, dass Senger die Wirkung des Buches durch zwanzig Jahre kommentierend begleiten und allzu versöhnlicher Legendenbildung entgegentreten konnte. Auch mögen kommunistische Affinitäten des Autors Ressentiment und Misstrauen in der westdeutschen Öffentlichkeit ausgelöst haben. Der Osten wiederum legte Sengers Bekenntnis zur Bundesrepublik als Komplizenschaft mit dem Klassenfeind aus.

Bei Eichborn ist 2010 eine gekürzte Fassung der „Kaiserhofstraße 12“ als Hörbuch erschienen. Als Sprecher wurde Walter Renneisen gewonnen, dessen Stimme wohl jedem, der mit „Tatort“ oder „Derrick“ aufwuchs, von ferne vertraut ist. Er zählt zu den ewig unterschätzten Comprimarii, die dem grauem Fernsehalltag diskreten Adel verleihen. Darüber hinaus ist er als Musiker und am Theater tätig. Mit Franz Kafkas „Bericht für eine Akademie“ und Patrick Süskinds „Der Kontrabaß“ ist Renneisen in eigener Regie auf Tournee gegangen. Seine helle, fast heisere stimmliche Physiognomie weiß er – zum Vorteil der darzustellenden Partien – fein modulierend zu führen. Einen berufeneren Sprecher hätte diese Produktion demnach nicht finden können. (Dass Renneisen im hessischen Raum beheimatet ist und den Frankfurter Zungenschlag für kritisch lokalpatriotische Interventionen nutzt, fügt sich trefflich ins Bild.)

„Kaiserhofstraße 12“ ist Heimatliteratur der anderen, realistischen Art. Frankfurt wird am Tiefpunkt seiner Geschichte gezeigt, in seinen finstersten Tagen. Trotzdem bleibt Sengers Verbundenheit mit der Stadt seines Lebens bestehen, und in anderer Weise darf sich jeder Deutsche Frankfurt verbunden fühlen: Es ist die eigentliche Hauptstadt der „Bonner“ Republik gewesen, mit Studentenbewegung und Frankfurter Schule deren prägendes geistiges Zentrum; zugleich die wichtigste Stätte jüdischen Lebens und der Aufklärung über nationalsozialistische Verbrechen – so fand der Auschwitz-Prozess in Räumen der Gemeinde Frankfurt statt. Es wäre des Nachdenkens wert, wie viel kleinbürgerliches Ressentiment im damals weit verbreiteten Widerwillen gegen das vorgeblich schmutzige, kriminelle, von Ausländern, Dealern und allerlei linkem Gelichter bevölkerte Frankfurt enthalten war. Andererseits – auch dies gereicht Frankfurt zur Ehre – blieb es Deutschlands Hauptstadt des Kapitalismus, von Börse, Banken, Immobilienspekulation und prononciert funktionaler, vorgeblich menschenfeindlicher, ostentativ kommerzieller Hochhausarchitektur – sodass sich wohlmeinende Linke provoziert fühlen durften. Mit einem Wort: Frankfurt war die deutsche Stadt des Widerspruchs, ein Dorn im Auge aller Spießer von links und von rechts. Mag es diesen Ehrentitel an Berlin verloren haben – während vier Jahrzehnten Bundesrepublik ist es die wahre Hauptstadt des Landes gewesen, und dies ist auch jenen Verfolgten wie Senger zu danken, die 1945 geblieben oder nach Frankfurt zurückgekehrt sind.

Titelbild

Valentin Senger: Kaiserhofstraße 12. Gelesen von Walter Renneisen.
4 CD.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2010.
19,90 EUR.
ISBN-13: 9783821863320

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