Zurück in die Zukunft?

Zur Neuauflage von William Gibsons „Neuromancer-Trilogie“

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

George Orwell veröffentlichte 1949 seinen Roman „1984“. Er schilderte darin aus der Perspektive der Vierzigerjahre eine düstere Zukunft, in der ein totalitärer Staat mit Hilfe einer allumfassenden Überwachung seine Gewalt über die unterdrückte Bevölkerung aufrecht erhält. Für das Jahr 1984 sollte diese Vision in keinem westeuropäischen Staat Realität werden. In ebendiesem orwellschen Romanjahr 1984 erschien William Gibsons Roman „Neuromancer“. 1984 gibt es noch keine PCs in den Haushalten. Das Internet existiert nur für eine kleine Anzahl von IT-Freaks und für militärische Zwecke. Die Datenverarbeitung steckt noch in den Kinderschuhen und man arbeitet mit unflexiblen Großrechnern, Speicherplatz kostet Unsummen und die private Nutzung von Datenspeichern und Datenverarbeitungsmaschinen wird bestenfalls in den Köpfen einiger visionärer IT-Profis gedacht. Begriffe wie Internet oder ähnliche Vorstellungswelten existieren noch nicht einmal von ihrer Begrifflichkeit.

William Gibson und sein Roman „Neuromancer“ setzen 1984 in diesem informationstechnischen „Vakuum“ ein. Gibson erfindet eine neue Welt, erfindet des Internet und den Begriff „Cyberspace“. Er lässt diese Welt von gesellschaftlichen Outcasts durchqueren, so genannten Konsolen-Cowboys. Ihre virtuellen Reisen durch die Datennetze sind so genannte „Runs“ und die besten der Cowboys erlangen legendären Status, werden zu „Mythen im Netz“. Am eindringlichsten ist die sprachliche Ebene in Gibsons Romanbeziehungsweise in allen drei Romanen, denn zu der „Neuromancer“-Trilogie gehören neben „Neuromancer“ noch die Romane „Count Zero“ (1986) und „Mona Lisa Overdrive“ (1989).

Die Bezeichnung für die Sprache im Buch ist „Tech“, aber man verkürzt die sprachliche Ebene um einen wesentlichen Faktor, den der Emotionalität, wenn man die atmosphärischen Felder nur mit einem Schlagwort beschreiben möchte. In den virtuellen Welten des Cyberspace begegnet der Protagonist Case einem Jungen, der ihn auf das zentrale Problem aufmerksam macht: „Um einen Dämon zu rufen, muss man seinen Namen kennen.“ Der Name, der fehlt, ist der Titel des Buches: „,Neuromancer‘, sagte der Junge. Er schaute mit zusammengekniffenen, grauen Augen in die aufgehende Sonne. […] Neuro von den Nerven, den Silberpfaden. Romancer – der Phantast, der Träumer.“

Gibson gelingt, was in der Filmwelt selten funktioniert hat, eine literarisch dichte Atmosphäre aufzubauen, die nicht durch die besinnungslose Aufzählung technischer Begrifflichkeiten versucht, ein Gefühl für „Cyberspace“ oder für virtuelle Räume zu erzeugen. Es ist ein Gewebe der Sprache, ein Wortfeld, ein Netz und Geflecht von Wörtern und intendierten Begrifflichkeiten, von erfundener Terminologie, die genau das abbildet, was der Leser dann auch auf einer ganz emotionalen und instinktiven Ebene als die imaginierte virtuelle Welt empfindet, in der die neuen Konsolen-Cowboys ihre Abenteuer erleben. Dabei ist es aber vor allem auch deshalb interessant, weil selbst die Helden der virtuellen Welten mit ihren realen Körpern immer noch in einer unzulänglichen Wirklichkeit existieren müssen – zumindest fast alle.

Gibsons Trilogie ist ein Abenteuer, das einen immer wieder an „Zurück in die Zukunft“ erinnert und zu einem ständigen Abgleich mit der gegenwärtigen technischen Wirklichkeit in den Netzen der Virtualität auffordert. „Neuromancer“ ist der erste Teil von dem Film „Matrix“ der Wachowski Brothers als Literatur – entstanden zwanzig Jahre vor den Kinobildern. William Gibson hat vielleicht die Vision unserer digitalen Wirklichkeit und unserer nahen virtuellen Zukunft in Literatur transzendiert – eigentlich ein Grund, Gibsons „Neuromancer“-Trilogie zur Pflichtlektüre zu erklären und in den verbindlichen Kanon der Werke zu übernehmen, die unverzichtbar sind für das Verständnis der Gegenwart. Im kenntnisreichen Nachwort formuliert es Sascha Mamczak so: „Der Cyberspace ist heute, dreißig Jahre nach William Gibsons ‚Neuromancer‘, nicht mehr dort, er ist hier – da, wo wir gerade sind. Die andere, die neue Welt ist nun die, in der es keinen Netzanschluss gibt, in der das Handy nicht funktioniert, in der irgendjemand den Stecker gezogen hat.“

Titelbild

William Gibson: Die Neuromancer-Trilogie. Roman.
Heyne Verlag, München 2009.
990 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783453526150

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