Eine Schule des Sehens

Leonid Dobycins Roman „Die Stadt N.“ in neuer Übersetzung

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit Leonid Dobycin (1894-1936) kann gegenwärtig ein Autor entdeckt werden, der in der Sowjetunion in Vergessenheit geraten war, im Ausland hingegen bis vor kurzem noch gar nicht angekommen ist. Es ist nicht zuletzt Iosif Brodskij zu verdanken, dass dieser Name wieder ins Bewusstsein der Leserschaft gelangen konnte. Kurz nach der Verleihung des Nobelpreises hat Brodskij Dobycin im Gespräch mit amerikanischen Studenten als wichtigsten russischen Prosaschriftsteller des 20. Jahrhundertes bezeichnet.

„Die Stadt N.“, Dobycins Hauptwerk, ist zugleich zu seinem Vermächtnis geworden. 1935 erschienen, traf der kurze Roman nicht auf das Wohlwollen der offiziellen sowjetischen Kulturpolitiker. Man warf ihm Formalismus und Verherrlichung des Kleinbürgerlichen vor. Mitten in einer Sitzung des Leningrader Schriftstellerverbandes, die sich mit dem Roman befasste, verschwand Dobycin 1936 spurlos: Er dürfte sich das Leben genommen haben.

„Die Stadt N.“ schildert über mehrere Jahre hinweg das Heranreifen eines Jungen von der Vorschulzeit, bis er mit einem Diplom ins große Leben hinaustritt, um einen Beruf auszuüben. Der namenlos bleibende Junge fungiert im Roman als Erzähler, der aus seiner begrenzten Perspektive heraus das Kleinstadtmilieu von Dvinsk (vormals Dünaburg) zu Beginn des 20. Jahrhunderts wahrnimmt. Er beobachtet dabei die Welt der Erwachsenen, die er aber nicht wirklich durchdringt – sein Blick bleibt in den herrschenden Konventionen der Sprache und Gewohnheiten gefangen. Gleichzeitig öffnet der Junge, vielleicht fast unbeabsichtigt, ein Panorama des Provinzlebens im Westen des Zarenreichs, wo sich Völker und Religionen begegnen: Die Letten feiern ihr heidnisches Fest der Sommersonnenwende, die Juden zelebrieren ihre religiösen Rituale. Orthodoxe Russen, uniierte Slaven, katholische Polen nehmen zwar gegenseitig an Begräbnissen teil, doch ansonsten bleibt jede Gemeinschaft mehr oder weniger unter sich. Wir begleiten den jungen Erzähler aber auch bei seinen ersten schüchternen Versuchen, Freundschaft zu schließen – wobei sich bald schon leise andeutet, dass er künftig eher die Nähe des eigenen Geschlechts suchen wird. Am Horizont dieses privaten und kleinstädtischen Geschehens verlaufen ereignisreiche Jahre für das Zarenreich, von dessen bevorstehendem Ende man hier am äußersten Rand des Imperiums bereits etwas ahnen kann.

Es ist also nicht so, dass in diesem Roman nichts passieren würde – wie die Kritik gelegentlich festgehalten hat. Dieses Missverständnis lässt sich wohl damit erklären, dass in der Wahrnehmung des Jungen die Ereignisse alle dasselbe Gewicht erhalten. Es gibt keine Hierarchie des Geschehens – die Nachricht vom Ausbruch des Kriegs mit Japan wird kaum wesentlich anders protokolliert als der Tod des Vaters oder die Meldung, dass Schüler in der Buchhandlung einen Kalender gratis bekommen können. Das hat natürlich wiederum mit dem noch unsicheren Blick des Jungen zu tun, der seinen Sehsinn erst noch schärfen muss. Ironischerweise erweist sich am Schluss des Romans, dass der Junge eine Brille benötigt. Ein Hinweis darauf, dass er fortan vielleicht alles richtig sehen wird: Der Junge ist erwachsen geworden.

Auch Form und Sprache des Romans verdienen ein paar Bemerkungen. Das Buch besteht aus eher kurzen Kapiteln. Diese sind jeweils wiederum in Abschnitte unterteilt, die meist nur wenige Zeilen umfassen. In ihnen spiegelt sich gleichsam das Bruchstückhafte in der Wahrnehmung des heranwachsenden Erzählers, der das Gesehene vorerst nicht einzuordnen vermag. Zugleich erklärt sich damit auch das gleiche Gewicht, das allen Informationen verliehen wird. In den einzelnen Abschnitten erwächst eine dichte Beschreibung, die bisweilen auch poetisch überhöht wird.

Ein weit gespanntes Netz an Verweisen in die Literatur, Kunst, Politik und Philosophie durchzieht den Roman. Auch manches autobiografische Element ist hineingeflossen. Darin ist „Die Stadt N.“ auch ein Buch der Moderne. Bei der Entschlüsselung der Verweise äußerst hilfreich ist der ausgedehnte Anmerkungsteil am Schluss des Romans. Der Übersetzer Peter Urban stützt sich dabei auf die Vorarbeit des Petersburger Literaturwissenschaftlers Aleksandr Belousov, der in einem Personenlexikon zu Dobycins „Die Stadt N.“ zahlreiche Anspielungen aufschlüsselt. Allerdings wird in den Anmerkungen im Einzelnen nicht klar, welche Informationen nun von Belousov und welche von Urban stammen. Schade auch, dass gleich in der allerersten Zeile des Romans eine Verwirrung bei der russischen Namensgebung geschaffen wird, wenn Aleksandra Lvovna Ley zunächst fälschlicherweise als Aleksandrovna Ley vorgestellt wird.

Der Vermerk auf dem Umschlagzettel, „ein Winterbuch“, muss wohl vor allem als versuchte Werbung interpretiert werden. „Die Stadt N.“ ist gerade kein Winterbuch, im Gegenteil: Es ist eben der Rhythmus der Jahreszeiten, der das Buch auf weite Strecken bestimmt – manchmal wird auf wenigen Seiten ein ganzes Jahr abgehandelt. Kurios genug: Wie die Zeit vergeht, zeig sich unter anderem daran, dass man im Elternhaus des Erzählers periodisch die Dienstboten auswechselt – stets hat man ihnen nämlich etwas vorzuwerfen.

Ansonsten ist „Die Stadt N.“ aber ein sehr fein gestaltetes Buch, das einen zweifellos wichtigen Autor der russischen Moderne wieder zugänglich macht, nachdem die frühere deutsche Übersetzung von Gabriele Leupold (1989) inzwischen nicht mehr lieferbar ist.

Titelbild

Leonid Dobycin: Die Stadt N. Roman.
Übersetzt aus dem Russischen von Peter Urban.
Friedenauer Presse, Berlin 2009.
230 Seiten, 22,50 EUR.
ISBN-13: 9783932109614

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