Ästhetisch (ver)enden
Burkhardt Linder und Peter Brandes über Figuren und Diskurse des paradoxalen Abschließens
Von Irina Hron
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseBereits am Eingang des Bandes setzen die beiden Herausgeber die Denkfigur der Paradoxie, indem sie mit einer Reflexion über das prekäre Narrativ der Einleitung selbst beginnen. Auf diese Weise nehmen Peter Brandes und Burkhardt Lindner eine Zusammenschau von Anfang und Ende vor und eröffnen ihren Band über das Enden sehr bewusst mit einem Beginn. Daran anschließend akzentuieren sie eine der zentralen Figuren, die sich durch das komplette Buch ziehen wird: die Grenze. Auch wird die Differenz zwischen einem Reden über das Ende und dem Ereignis des Endens selbst thematisiert, indem über die grenzwertige Kategorie der erzählten Apokalypse sinniert wird. Argumentativ kehrt der Text abschließend wieder zum Problem des Anfangens zurück und verweist auf die Doppelwertigkeit des Phänomens. Mit jedem Ende wird ein neuer Anfang, zumindest aber ein Übergang zu etwas Neuem geschaffen. Damit liegt das vordergründige Interesse des Sammelbandes auf einer Auseinandersetzung mit der Polarität von der Vor- und Nachträglichkeit des Endens. In einem ersten Teil behandeln die Autoren die Performativität des Abschließens und unterschiedliche Figuren und Gesten des Endens, während im zweiten Teil Diskurse der Endzeit und des Endes be- und geschrieben werden. Die insgesamt zehn Beiträge erstrecken sich dabei über eine historische und thematische Bandbreite, die von Ovid bis zur Performance Art des 21. Jahrhunderts reicht.
Der Vorhang hebt sich mit Nicholas Rennies Lektüre von Molières „Le Festin de pierre“ und Johann Wolfgang Goethes „Faust“. Das Hauptaugenmerk ist dabei auf die Textenden gerichtet, die beide in einer Vergeltung irdischer Taten durch eine übermenschliche Instanz kulminieren. Rennie deutet die dem „theatrum mundi“ entsprechende klassische Lesart einer Wiederherstellung des ethischen Gleichgewichts um und lenkt die Aufmerksamkeit stattdessen auf die Reflexion von Performativität. Ausgehend von dem Diskurs der Gabe, der argumentativ allerdings nicht ganz zu Ende gedacht wird, öffnet sich der Blick auf eine inszenierte Weltordnung, die bloß mehr aus Zitaten montiert, aber nicht mehr dargeboten wird. In einer Aufschubstruktur wird „vielmehr versprochen, dass etwas dargeboten wird oder werden wird“, und das Ereignis des Endes bleibt aus. Auch die rettende Instanz des „deus ex machina“ verkümmert in Rennies Darstellung zum Maschinengott ohne ethische Verantwortung. Unter dem Stichwort einer „inflationäre[n] Mathematik der Ungerechtigkeiten“ steht die Realität des theatralischen Darstellens im Fokus, die ihre eigene Theatralität bewusst selbst ausstellt.
Auch in Brandes Versuch über eine Rhetorik der Vollendung wird der Goethesche „Faust“ mit einem weiteren Text zusammengelesen; diesmal sind es die „Metamorphosen“ von Ovid. Mit rhetorischer Finesse widmet sich der Verfasser dem Paradox von ersten und letzten Worten. Allerdings meint man an der einen oder anderen Stelle ein „Zuviel“ der Rhetorik zu lesen: neben der Rhetorik der Vollendung finden sich eine Rhetorik des letzten Wortes, eine Rhetorik des Wracks, oder aber eine Rhetorik des Abschließens und der Abgeschlossenheit. Indem Brandes das Titelwort des Bandes aufnimmt, Finis, welches gleichzeitig das Ende des „Faust II“ bildet, reflektiert er die Strategien einer performativen Konstruktion und Dekonstruktion des eigenen dichterischen Werkes. Deutlich streicht er die Unterschiede zwischen Ovid und Goethe heraus. Während für Ersteren der Ruhm (fama) zum Garant für das Fortleben seines Werkes wird, liegt die Betonung bei Goethe auf dem apokalyptischen Akt des Aufbrechens des Siegels. Die Sphargis, das abschließende Siegelzeichen des Autors, welches gleichzeitig den Besitzanspruch des Verfassers markiert, bildet die Brücke zwischen Ovids und Goethes Verständnis vom Überdauern des Werkes.
Ausgehend von einer Reihe von Vorannahmen aus der Hölderlinforschung, betrachtet Jürgen Link das Problem des Endes mit Blick auf den gescheiterten Bühnensuizid des Empedokles in Friedrich Hölderlins gleichnamigem Drama. Er begreift die Figuren des unvollendeten Schauspiels als „Instrumente […] historisch-diskursiver Töne“ und beschreibt den Freitod des Empedokles als ästhetisch und gedanklich notwendigen Schlusspunkt. Etwas provokant setzt er damit Hölderlins Schreiben als ein „Schreiben zum Suizid“. Wesentlich ist dabei das Motiv einer vielstimmigen Anlage der Figuren und Diskurstöne: Indem Empedokles unterschiedliche Stimmen in sich vereint (Lykurg, Jean-Jacques Rousseau, Christus, Napoleon Bonaparte), entsteht eine mehrstimmige Struktur, welche Link als Basis von Hölderlins Text begreift. Die oftmals verwinkelten Überlegungen werden zu einer bemerkenswerten Schlusshypothese zusammengeführt, bei der die Person des Empedokles gegen seine symbolische Bedeutung ausgespielt und als Grund für die Unabschließbarkeit des Dramas angeführt wird.
In einem außerordentlich dichten Textgefüge beschreibt Gabriele Brandstetter ästhetische Schwundstufen des (Ver)endens. Während sie über das Paradox der Rede vom Ende nachdenkt, führt sie zugleich in das Anliegen ihres Beitrags ein: die Kluft zwischen erzähltem und ausagiertem – performiertem – Ende. Die Grenze verläuft dabei zwischen der Repräsentation und dem Ereignis des Endens. Brandstetter zeigt an einer Reihe von Beispielen auf, wie mit der unausweichlichen Nachträglichkeit zum Erzählten auf der Bühne und im Text umgegangen werden kann. Mal ist es ein räumliches und/oder zeitliches Verschieben in ein Jenseits des Mediums, mal ein Gehen als Übergang oder ein fading und Überspielen in eine andere Medialität. Oft werden Körper zu Orten der Inszenierung und der Zeugenschaft. Den letzten radikalen Schritt stellt das Aufhören oder sukzessive Entziehen der Performance dar. Indem die Linien zusammengeführt werden, mündet der Text in die Figur eines aufgeschobenen Aufhörens, eines „Ende[s] als Schwund“.
Vor dem Hintergrund der problematischen Nachlass- und Publikationsgeschichte von Walter Benjamins „Berliner Kindheit“ entrollt Burkhardt Lindner die „[u]nendlich verzettelte Produktion“ eines Textes, der sich der endgültigen Buchgestalt verweigert. Lindner gebraucht dafür das Kunstwort „Finalisierung“ in der Doppelbedeutung von einerseits schreibendem Hervorrufen der Kindheitserinnerungen und andererseits dem Versuch, eine bestimmte unwiederbringliche Kindheit als Kindheitsende zu fixieren. In der langen und quellenreichen Abhandlung wird das Kindheitsbuch als Narrativ ohne Anfang und Ende ausgestellt und als anachronistische und diskontinuierliche Folge einzelner Erinnerungskomplexe präsentiert. In einem zweiten Schritt nähert sich Lindner dem konkreten Vorgang des Erinnerns und der Schreib- und Erinnerungsarbeit. Das Stück vom bucklichten Männlein, welches er mit Sigmund Freud liest, nimmt dabei eine zentrale Rolle als Endstück und erinnerungstheoretisches Herzstück ein. Akribisch und detailreich zeichnet Lindner das Ende eines Buchs ohne Ende.
Mit Vivian Liskas sorgfältiger Darstellung von Franz Kafkas Kampf mit dem (Nicht)enden setzt der zweite Teil des Bandes ein. Das Hadern mit dem Ende des Textes, aber auch mit dem Ende des Schreibens selbst, wird als unerlässliche Erfahrung von Kafkas literarischem Hervorbringen verstanden. Zwei Denkfiguren spielen dabei eine herausragende Rolle: die Figur der Kehrtwendung und die Figur des Aufschubs. Bei beiden geht es um das Aufschieben einer „Ent-scheidung“ [sic!]. Ein Schwebezustand soll erzeugt werden, welcher das Schreiben (wieder) ermöglicht. Sowohl die Kehrtwendung als auch der Aufschub verhindern jede endgültige Festlegung, und indem sie alles unentwegt in Bewegung setzen, generieren sie den rettenden weil unentschiedenen unendlichen Kampf. Dies führt Liska beispielhaft an zwei kleinen Erzählungen vor. In „Eine kleine Frau“ inszeniert Kafka eine paradigmatische Kampfszene des Schreibens, bei der jede Entscheidung sich in der Unendlichkeit der kämpfenden Allianz verliert. Auch „Der Bau“ erzählt von einem im Schreibakt erwirkten Aufschub eines befürchteten Endes. Klar und eindringlich führt der Text vor, wie und weshalb Kafkas Schreibverfahren durch Figuren der Unabgeschlossenheit inszeniert wird.
Im Zentrum von Norbert Fintzschs Ausführungen stehen Aspekte von Zeitwahrnehmung im Nordamerika des 19. Jahrhunderts. Er betrachtet christliche Diskurse und Zeitkonzeptionen vor dem Hintergrund der Apokalypse und schildert eine spezifisch amerikanische apokalyptische Weltsicht. Um diese adäquat beschreiben zu können, greift Fintzsch ausdrücklich auf eine vormoderne Zeitvorstellung zurück. Diese versteht das Phänomen Zeit ausschließlich als Epoche zwischen einer ersten Schöpfung und dem Jüngsten Gericht und ist damit klar auf ein einzutreffendes apokalyptisches Ende ausgerichtet. Nicht ohne auf die Schwierigkeiten hinzuweisen, die mit einer unverkennbaren Orientierung an der Bibel verbunden sind, geht der Verfasser dazu über unterschiedlichste Gruppierungen mit apokalyptischer Ausrichtung zu benennen: Perfektionisten, Mormonen, Millerites, sowie Seventh-Day-Adventisten und einige mehr. Der unkonventionelle Text schließt mit einer Reflexion zur Endzeitlichkeit in der afroamerikanischen Kultur, was den Vorstellungsbereich der Apokalypse als gerechtes Ende und Erneuerung abschließt.
Mit Blick für das Wesentliche setzt sich Nicolas Pethes unter dem Schlagwort einer Naturgeschichte der Zerstörung mit der deutsche Nachkriegs- beziehungsweise „Trümmerliteratur“ auseinander. Er konzentriert sich dabei auf mögliche Sprachfindungsversuche für die Wahrnehmung einer totalen Zäsur und zeichnet das Bild eines evolutionären Umschlags von menschlicher Zivilisation in menschenlose Naturgeschichte nach. Im Mittelpunkt steht die Frage nach der Motivation und der Art und Weise, wie solche Erzählungen des Endes überhaupt geschrieben werden können. Pethes greift in seinem Aufsatz zur Figur des evolutionären Rückschritts und stellt diese der These von der Nichterzählbarkeit des zerstörten Deutschlands (Hans Magnus Enzensberger, W.G. Sebald) gegenüber. Am Beispiel von Christoph Ransmayrs Roman „Morbus Kitahara“ beschreibt er die Auflösung von Gesellschafts- und Zivilisationsgeschichte zugunsten einer rückwärtsgewendeten Naturgeschichte. Wie schon bei Sebald manifestiert sich die narrativ umgekehrte Evolution in Ransmayrs modellhaft verkümmerter Gemeinde im Bild überwachsener Industrieruinen. Das Ende ist damit nicht länger als historische Kategorie zu denken, sondern als Moment des Umschlagens von Geschichte in Natur und dem „Verlust historischer und anthropologischer Orientierungsmarken“, wie Pethes Beitrag eindrucksvoll vorführt.
Mit provokanten Formulierungen stellt Bernhard J. Dotzler die ostentative Frage nach dem Tod der Literatur. Er ruft mit seinem Text das Ende des Buchzeitalters (mit) aus, und reflektiert dabei über die neuesten Methoden der Erhebung, Speicherung und Übertragung von Information. Maurice Blanchot zitierend, warnt er vor einem „Literaturschwund“ beim Übergang von einer Kultur des Buchsdrucks zur Kultur der elektronischen Medien. Mit dem Bild der Digitalisierung als „Brand der Bibliotheken“ wird konstatiert, dass der Wechsel vom Druck zu den elektronischen Medien längst vollzogen sei. Deshalb ist der Tod der Literatur auch keine Prognose mehr, sondern eine Diagnose, so Dotzler, und diesen Tod nicht zu statuieren, hieße die Wirklichkeit zu leugnen. Er selbst zitiert Umberto Eco aus einer Internetquelle und schließt damit direkt an die Problemstellung an. An Fantasien vom Ende der Literatur anknüpfend, beschreibt Dotzler eine apokalyptische Sicht auf die Buchkultur der Zukunft. Sein eigener Standpunkt bleibt dabei zweideutig.
Den Abschluss des Bandes bildet Horst Bredekamps kunsthistorischer Durchgang zur „Skulptur als Grenzstein“ vom 12. Jahrhundert bis heute. Der kurze Text, der gelegentlich die Bezugnahme auf die Themenstellung des Endes vermissen lässt, beschreibt prominente Skulpturen der Kunstgeschichte als Wegmarken mit temporaler Qualität, insofern als dass sie zu „zeittreibenden Skulpturen“ werden. Als solche sind sie in der Lage eine neue Zeitrechnung zu begründen (Michelangelo), als Inkarnation der Freiheit zu fungieren (Johann Joachim Winckelman) oder aber als Selbstreflexion des absoluten Geistes (Georg Wilhelm Friedrich Hegel). Bei Auguste Rodin wird die Skulptur zum Fragment, einem Non-Finito, was zur fragmentarischen „autoikonolastische[n]“ Selbstaufhebung führt. Bredekamp schließt seine anschaulichen Überlegungen mit einem Ausblick auf Gegenwartskünstler wie Eduardo Kac, Frank Stella oder Joseph Kosuth.
Die zehn größtenteils sehr unterschiedlich ausgerichteten Beiträge bieten eine facettenreiche und sinnvoll zusammengestellte Rundschau zum Thema des Ende(n)s und stellen sich vermöge der Betrachtung verschiedenster Kunstformen dem „unmöglichen Performativ“ des Endes.
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