Schlechte Zeiten für Helden

Über Thomas Langs Roman „Bodenlos oder ein gelbes Mädchen läuft rückwärts“

Von Herbert FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Titel eröffnet einen ersten Zugang zu Thomas Langs neuem lesenswerten Roman, dem bislang vierten nach „Than“ (2002), „Am Seil“ (2006) und „Unter Paaren“ (2007): Von der ersten Szene an, in der Jan Bodenlos in einem Schwimmbad einen Sprung vom Zehnmeterturm wagt, spielt der Autor mit den Assoziationsmöglichkeiten des Titelwortes. Es ist der Familienname des achtzehnjährigen Protagonisten. Ausführlich beschreibt der Roman Jans letztes Schuljahr bis zum Abitur an einem Gymnasium in einer Kleinstadt zwischen Bonn und Köln und streift in den Schlusskapiteln seine Grundausbildung bei der Bundeswehr. „Bodenlos“ wird darüber hinaus zur Chiffre für die Unsicherheit, Hilflosigkeit, Gefährdung und Angst des jugendlichen Protagonisten an der Schwelle zur Erwachsenenwelt. Das Wort verweist auf den Zeitgeist der jungen Generation der 1980er-Jahre. Die Illustration auf dem Buchdeckel von Leander Eisenmann spielt mit der Assoziation „ins Bodenlose fallen“. Es ist ein Vexierbild, das den Anschein erweckt, als stürze jemand von einem Dach in die Tiefe. Wenn man das Buch dreht, versteht man einen anderen Zusammenhang. Der Sturz, den das Bild suggeriert, erweist sich dann als ein wagemutiger Sprung von einem Turm ins Wasserbecken einer Badeanstalt.

„Bodenlos“ ist, auch wenn alle wichtigen Figuren Jugendliche sind, kein Jugendroman. Es ist ein Buch über die Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens in den frühen 1980er-Jahren des letzten Jahrhunderts, über die Desillusionierung und die Lähmung der damaligen Twentysomethings-Generation. Das Alter von achtzehn, zwanzig, dreiundzwanzig Jahren der Romanfiguren gibt dem Autor die erzählerische Freiheit, sie in einem Zeitraum des „Dazwischen“ agieren zu lassen. Sie stehen am Ende ihrer Gymnasialzeit, erfahren die Schule als einen Ort, an dem sich unübersehbar gesellschaftliche Brüche und Probleme auftun, und müssen mit einem Mal Entscheidungen treffen, die ihr Leben in den folgenden Jahren und Jahrzehnten beeinflussen werden. Es ist eine Zeit voller Erwartungen, Hoffnungen und jugendlicher Zukunftsgewissheit, aber auch voller Ängste, Unsicherheit und Zögern.

Diese unterschwelligen Spannungen sind in Jan spürbar. Jan Bodenlos ist ein Anti-Held, ein Außenseiter – keiner, der sich mit vielen Freunden umgibt. Er sehnt sich danach, Mädchen kennenzulernen, kann sich aber nicht überwinden, sie anzusprechen und zu Partys einzuladen. Er bringt die Schule gelangweilt und innerlich unbeteiligt hinter sich und macht sein Abitur, ohne von dessen Bedeutung überzeugt zu sein. Er hat kein Vertrauen in die Zukunft, schmiedet keine Pläne für die Zeit nach der Schule, geht zur Bundeswehr, weil das der bequemere Weg ist, liest, schreibt, und ist doch einer, der in allem nur dilettiert und keine wirkliche Eigenständigkeit entwickelt. Bodenlos lebt in den Tag hinein, ungeplant, gelenkt von außen, wenig getrieben von eigenen Entschlüssen. Er ist ein unauffälliger Charakter, doch einer, der schnell das Interesse des Lesers auf sich zieht. Denn der Leser wird durch ihn zum gespannten Beobachter eines für die frühen 1980er-Jahre typischen Verhaltens junger Erwachsener. An der Figur Bodenlos wird deutlich, was diejenigen, die heute als etwa Fünfzigjährige die Gesellschaft prägen, als Zwanzigjährige umgetrieben und bestimmt hat, welche Ziele und Lebensentwürfe sie erträumt und wieder fallen gelassen haben, welche Hoffnungen und Enttäuschungen ihr Leben gelenkt haben. Er ist eine Figur, an der sich die Folgen einer in die Leere laufenden Politisierung der 1970er-Jahre und die beginnende Lähmung eines Teils des gesellschaftlichen Lebens in den Anfangsjahren der Ära Kohl ablesen lassen. Er verkörpert die Perspektivlosigkeit vieler junger Menschen, die sich einer wachsenden Arbeitslosigkeit gegenübersahen und die trotz der Demonstrationen gegen die Stationierung von Pershing-II-Raketen und Cruise Missiles – der Protest der 500.000 Demonstranten im Bonner Hofgarten im Oktober 1983 wird immer wieder angesprochen – ihre Hilflosigkeit spürten.

Jans Passivität wird aber nicht nur durch die gesellschaftlichen Umstände seiner Zeit begründet. Sie wird auch aus seiner privaten Lebenssituation heraus entwickelt. Abschied, Verlassen werden, Selbstmord und Unfalltod sind Erfahrungen, die die Figuren in Langs Roman schmerzlich durchleben müssen, allen voran der Protagonist.

Er ist zum ersten Mal in seinem Leben von einem Mädchen fasziniert: Kiku, eine Halb-Japanerin, die mit ihrer Mutter in die kleine Stadt zieht und in Jans Abschlussklasse eintritt, ist ein Mädchen, das „rückwärts“ durch Türen läuft, wie es im Titel des Buches heißt, als Ausdruck der „souveränsten Weltverachtung“ oder „großer Überlegenheit“. Sie unterscheidet sich in Aussehen und exzentrischem Auftreten von den anderen und übt einen großen Reiz auf Jan aus. Er traut sich lange nicht, sie anzusprechen, schickt ihr Briefe, träumt von ihr, schreibt Texte über sie, zeichnet ihren Körper. Sie treffen sich gelegentlich, aber es kommt zu keiner tieferen Freundschaft. Kiku siedelt noch vor Ende des Abschlussjahres mit ihrer Mutter nach London über und verschwindet aus Jans Leben. Erst nach längerer Zeit verblasst ihr Bild in seinen Träumen und Gedanken. Auch Tina, mit der sich Jan anfreundet und die in den Monaten nach dem Abitur seine Freundin wird, eröffnet ihm eines Tages, dass sie die Universität wechseln und allein ihren Weg finden wolle. Ähnlich ergeht es ihm mit seinem Freund Torsten, der Jan im Laufe der Geschichte zunehmend fremder wird und den er schließlich ganz aus den Augen verliert.

Stärker noch als diese zerbrechenden Freundschaften beeinflusst der Tod von Menschen, die Jan kannte, vor allem aber der Unfalltod seiner älteren Schwester An, sein Leben. Die Nähe der beiden Geschwister zeigt sich schon im Namen: An ist Teil des Namens ihres Bruders. Jan fühlt sich in der kleinen Wohnung seiner Schwester mehr zu Hause als im großen Haus seiner Eltern. Mit ihr spricht er über seine Gedanken und Gefühle, wie es mit niemandem sonst möglich wäre. Ihr Tod ist das schlimmste Ereignis in seinem Leben. Er gerät in eine tiefe Krise, scheint buchstäblich ins Bodenlose zu stürzen und alle Hoffnungen auf eine Zukunft zu verlieren. Diese erscheint ihm wie ein „Schwarzes Loch“, unerforscht, undurchschaubar, gefährlich, aber auch irgendwie auf grotesk-absurde Weise „todessehnsüchtig-faszinierend“. Apathisch und wie unter Schock unterzieht sich Jan der Abiturprüfungen. Er besteht das Examen, kann sich jedoch nicht dazu aufraffen, die Kleinstadt Füchten – auch ein so „sprechender“ Name wie „Bodenlos“, der mit den Assoziationen „Flüchten“ und „Fürchten“ der Geschichte einen leicht ironischen Unterton verleiht – endgültig zu verlassen. Immer hat er davon geträumt, die Provinzialität seiner Heimatstadt zu überwinden. Jetzt, nach Ans Tod, fehlt ihm dazu die Kraft.

Der Roman besticht durch die Ernsthaftigkeit der Geschichte einer illusionslosen Jugend und durch die Genauigkeit des Bildes der 1980er-Jahre, das vor den Lesern entfaltet wird. Mopeds, Pink Floyd- und David Bowie-Musik, Diskonächte, Mauerparolen wie „Nie wieder Krieg!“, Ikea-Möbel, BTX-Bildschirmtext und punkiges Aussehen sind nur einige Beispiele dafür, wie es Lang gelingt, mit Hilfe weniger Wörter die Atmosphäre und den Alltag der damaligen Zeit einzufangen. Vor allem werden der wachsende Konflikt zwischen Jugendlichen und Erwachsenen, Kindern und Eltern sowie eine zunehmende Entfremdung junger Menschen vom alltäglichen gesellschaftlichen Leben in den Mittelpunkt des Geschehens gerückt: ein Nachhall der Politisierung der Zwanzig- bis Dreißigjährigen in den Jahren vor 1980, in denen eine Jugendkultur entstand, die sich scharf von der Erwachsenenwelt abgrenzte. Jan und seine Schwester sprechen von ihren Eltern als „René und Karin“ und spötteln über ihr „spießiges“ Verhalten. Ganz im Geist der 1970er-Jahre kritisieren sie die konservativen politischen Vorstellungen der Erwachsenen in ihrer Umgebung und proben in Worten den Aufstand gegen die Väter- und die Elterngeneration.

Die Friedensdemonstrationen in Bonn gegen die Stationierung von amerikanischen Atomwaffen in der Eifel scheiden die Jugendlichen in Demonstrationsbefürworter und solche, die sich an den Protesten nicht beteiligen. Jan lehnt es ab, aktiv, wie viele andere seiner Freunde, gegen die amerikanischen Waffenlagerungen zu protestieren. Später, nach dem Tod seiner Schwester, wirkt er wie gelähmt und ist zu jeder über den Alltag hinausreichenden Aktion unfähig.

Jan beobachtet, greift nicht ein. Er ist nicht mit allem, was ihm begegnet und was er wahrnimmt, einverstanden, bleibt aber dennoch tatenlos, so als seien ihm alle inneren Antriebskräfte auf dem Weg zum Erwachsenen verloren gegangen, als gäbe es nichts, für das es sich lohnen würde, einzutreten und aktiv zu werden. Jan durchlebt die entscheidenden Jahre seines Lebens ziellos. Er kritisiert die Welt seiner Eltern. Aber er entwickelt kein eigenes Bild von einer anderen Welt. Sein Leben ist geprägt von einer merkwürdigen Unentschlossenheit und Apathie, die wie eine zähflüssige Masse alles ersticken, Lebendigkeit nicht aufkommen lassen, dem Trott, der Alltäglichkeit nichts Eigenes entgegensetzen.

Lang präsentiert in seinem Roman eine Fülle von erzählerischen Mitteln: „Rückwärtserzählen“, häufige Stil- und Perspektivwechsel, Vor- und Rückverweise, Wechsel von beschreibenden und szenischen Erzählpassagen und Kommentare, die das Erzählen selbst thematisieren. Vor allem auf den letzten Seiten des Buches spielt der Autor mit seiner erzählerischen Fantasie. Der Ort der Handlung in den beiden Schlusskapiteln ist wie am Anfang und in mehreren anderen entscheidenden Szenen des Buches ein Turm. Ist es dort ein Zehnmetersprungturm oder ein Aussichtsturm, so ist es am Ende der Wachturm nachts in einer Bundeswehrkaserne. Jan blickt von seinem erhöhten Sitz aus in die Dunkelheit um ihn herum. Die Welt hat etwas Konturenloses, Unwirkliches, das er nicht begreift. „Nirgends etwas Schönes, dachte er, nirgends Aussicht etwas zu verstehen, keine Hoffnung nicht immer allem ausgeliefert zu sein.“ Jan ist, ähnlich dem „Fremden“ in Camus’ Roman, seinem Lieblingsbuch, „durchdrungen vom Bewusstsein seiner Gleichgültigkeit“. Seine Gedanken und Vorstellungen vermengen sich zu einer verstörenden Sicht auf das Leben, über dem die Melancholie des Abschieds, der Trauer, des Nimmerwiedersehens und des Verlorenseins liegt. Dass er schließlich auf einen Kameraden, der aus der Dunkelheit vor ihm auftaucht, zielt und schießt, verwickelt Jan am Schluss, als sei das die Konsequenz seines bisherigen Lebens, in die Absurdität eines ganz und gar grotesken Vorfalls.

Auf den letzten Seiten des Romans betont Lang – auch darin wieder ein ironischer Zug – die Fiktionalität des Erzählten. Er konstruiert zwei Schlüsse: einen „realistischen“ und einen, in dem Jan die Einsamkeit seines Lebens akzeptiert. Er stellt sich dabei vor, sein Leben bis zur Geburt und darüber hinaus rückwärts laufen zu lassen. Nichts als ein leeres, unbeschriebenes Blatt Papier läge dann schließlich auf dem Tisch: Ein neuer Roman über ein anderes Leben könnte entstehen. „So könnte es enden“, heißt denn auch der letzte Satz. „So könnte es beginnen.“

Titelbild

Thomas Lang: Bodenlos oder ein gelbes Mädchen läuft rückwärts.
Verlag C.H.Beck, München 2010.
461 Seiten, 21,95 EUR.
ISBN-13: 9783406590702

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