Glimmerschluff, Seegatt und Glühwürmchen der See

„Das Seevokabularium“ Hugo Dittberners ist ein poetisches Erinnerungsbuch

Von Ulrike WeymannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Weymann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Bojen und Wörter halten den Mann auf Kurs!“, pflegte Rainer Frederking, ein Studienfreund des Erzählers in Hugo Dittberners „Seevokabularium“, früher häufig zu sagen. Heute allerdings kennen weder die Freunde noch Rainers Familie seinen Kurs, denn seit etlichen Jahren ist er schon verschwunden. Die protestantisch-bildungsbürgerlichen Eltern haben ihn mittlerweile für tot erklärt. Sie konnten die weltfremden Ideen ihres ältesten Sohnes sowieso nie verstehen. Und damit dieses schmerzhafte Kapitel der Familiengeschichte nun einen Abschluss findet, trägt der jüngere Bruder Torges eine Kiste mit Erinnerungen zusammen. Sie beinhaltet die Spuren, die Rainer bei seinen Freunden hinterlassen hat: Fotos, Platten, Lieblingsbücher, ehemalige Kleidungsstücke des Vermissten. Eines Tages steht Torges auch bei dem Erzähler Albert vor der Tür. Zu Studienzeiten waren dieser und Rainer eng befreundet und sie verfolgten ein eigenartiges Projekt, wie Torges sich erinnert und Albert ihm bestätigt: „Eines Sonnabends kamen wir, wahrscheinlich war es ein heißer Tag und wir brauchten eine Abkühlung, auf die Idee, dieses See-Vokabularium einzurichten, das Wort, fällt mir ein, war übrigens zuerst da […]. Die See-Wörter und besonders die ein wenig rätselhaften, stimmungsvollen See-Wörter aufzuschreiben, so wie ‚Priel‘,‚Seeluft‘, oder ‚Kombüse‘. Wörter, die uns auffielen oder in Zeitungen und Büchern aus dem Rahmen fielen, nichts weiter. Nur ein Zeitvertreib!“

Für die Romankonzeption bedeutet das See-Vokabularium jedoch weit mehr als alberne Gaudi und purer Zeitvertreib. Das funktionslose und müßiggängerische Wort-Spiel ist symbolhafter Ausdruck der verträumten Lebenseinstellung der Freunde, die zugleich die Basis der Freundschaft bildet. Auf jeden Fall ist das „See-Vokabularium“ ein Buch der Erinnerung an den Freund und die gemeinsam verbrachte Zeit. Mittlerweile liegt es als „verstaubte Jugend“ im Bücherregal des Erzählers. Torges will es sich borgen, um in wissenschaftlicher Manier zu exzerpieren, was es ihm vom Leben seines Bruders erzählt, womit er komplett dessen Bedeutung verkennt. Denn „Das See-Vokabularium“ erzählt nur demjenigen etwas von der Wesensart Rainers und dessen poetischer Weltwahrnehmung, der in der Lage ist, sich auf den Spielcharakter dieses Projekts und die assoziationsoffene Erzählweise Dittberners einzulassen.

Albert jedenfalls wimmelt Torges erst einmal ab und nimmt dessen Besuch zum Anlass, auf seine Art und Weise den Spuren des verschollenen Freundes nachzuforschen. Mit dem Vokabularium im Koffer und in Gesellschaft seiner langjährigen Gelegenheitsbeziehung Britta macht er sich auf den Weg Richtung Nordsee, in „die Welt der Tiede und der Winde“, die auch Rainers Welt war. Von Worpswede über Nordenham, wieder nach Worpswede, Jever und Bremen geht der literarische Roadtrip. Dabei treffen die beiden auf Menschen aus der gemeinsamen Studienzeit der Freunde: In Nordenham besuchen sie die Erbtante des ehemaligen Freundes und bereits hier findet sich Albert dem Verdacht ausgesetzt, er wolle sich wohl nur in das Leben Rainers einschleichen. Als wahrer Freund müsse er doch über dessen Leben weit besser im Bilde sein, als seine Fragen nach den Träumen und dem Verbleib des Freundes suggerieren.

Dass es Britta und Albert gleich zu Anfang ihres Trips aufgrund eines sintflutartigen Unwetters, das sie an der Weiterfahrt hindert, nach Worpswede verschlägt, ist kaum Zufall. Die beiden landen und übernachten ausgerechnet in der Stipendiatenstätte Worpswede, die in Fortsetzung der Künstler- und Arbeitsgemeinschaft von Fritz Mackensen, Otto und Paula Modersohn-Becker, Heinrich Vogeler, Clara Westhoff und anderen dort immer noch existiert. Und natürlich wird auch Rainer Maria Rilke mit seinem Gedächtnisbuch „Stimmen der Freunde“ (1931) zitiert, denn „Das See-Vokabularium“ ist eigentlich ein Buch der Freundschaft. Es spürt ihr nach, fragt nach den Gründen für deren Verlust, vielleicht sogar deren Verrat, ohne dem Protagonisten oder dem Leser eindeutige Antworten zu geben. Es ist ein Roman, dem es weniger um die Erfüllung eines Plots als um die Magie des Lebens und das Bewahren von Erinnerungen im Kontext der zunehmenden Informationsvernetzung und Wissensverwaltung in der heutigen Gesellschaft geht.

Ein wenig erinnert der Roman an „Broken Flowers“ von Jim Jarmusch. Sowohl Bill Murray alias Don Johnson als auch Albert de Boer befragen ihr Leben und begeben sich in einem Roadtrip auf die Spuren der eigenen Vergangenheit. Die Reise gibt dabei weniger Antworten, als dass sie neue Fragen aufwirft. Eine wichtige Frage, die ihm die von den weltfremden Träumen des Freundesduos enttäusche Marlene stellt, lautet: Warum hast Du nicht an das „Hotel der Freunde“ in Holland geglaubt? Bist noch nicht einmal zu Besuch gekommen? Hast nur dem schönen Klang der Worte, nicht aber der gemeinsamen Utopie vertraut? Diese nachträglichen Forderungen von Rainers Ex-Frau weist der Protagonist zurück, schließlich sei er kein Wunsch-Erfüllungsgehilfe. Bedeutete ihm die Freundschaft anderes als Rainer, der in dem niederländischen Bade- und ehemaligen Künstlerort Domburg eine Gemeinschaft ähnlich denkender und fühlender Menschen gründen wollte und offensichtlich auf Albert rechnete? Bedeutete ihre poetische Einstellung zum Leben nicht einen Pakt? Nein, antwortet der Erzähler Marlene, auch er „habe ein Leben, das vielleicht scheitern könnte – und vielleicht scheitern wird. Aber so melodramatisch an fremder Küste, das war nicht nach meinem Geschmack.“ Albert findet auf seiner Reise, wenn schon nicht eindeutige Antworten über den Kurs seines zukünftigen Lebens, so doch zumindest Frieden mit einem Teil seiner Vergangenheit. Es ist spannend, ihn auf dieser Reise zu begleiten, sofern sich der Leser – anders als Torges – auf den Subtext und die Assoziationsräume des „See-Vokabulars“ einlassen kann. Am Ende des kurzen Romans ist er dann um wenige Antworten schlauer, aber um eine erzählenswerte Geschichte reicher.

Titelbild

Hugo Dittberner: Das See-Vokabularium. Roman.
Wallstein Verlag, Göttingen 2010.
136 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783835306318

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