Irritierend bis erschütternd – Astrid Pohl untersucht Wunsch und Wirklichkeit in deutschsprachigen Filmmelodramen 1933-1945

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bekanntlich klaffen Wunsch und Wirklichkeit des öfteren auseinander. So auch in den während der Naziherrschaft das Dunkel der Lichtspielhäuser erhellenden deutschsprachigen Filmmelodramen, wie die Marburger Filmhistorikerin Astrid Pohl in ihrer Dissertation mit dem Titel „TränenReiche BürgerTräume“ zeigt. Pohl untersucht sowohl die in melodramatischen Filmproduktionen „dominierenden Konfliktthemen“ wie auch ihre „formale Umsetzung und inhaltliche Entwicklung“.

Neben den Charakterisierungen der cineastischen Figuren und deren Beziehungen zueinander nimmt sie „die Frage nach den möglichen und wahrscheinlichen Leseweisen des filmischen Textes durch das zeitgenössische Publikum“ in den Blick. Das zentrale Erkenntnisinteresse ihrer Arbeit zielt also auf die „Prozesse zwischen Produktion und Rezeption“, denen Melodramen als „filmische Bearbeitungsfeld bürgerlicher Ethik“ im Nationalsozialismus unterlagen. Dabei unterzieht sie nur in Einzelfällen bestimmte Filme einem close reading, so etwa „Mutter und Kind“ (Hans Steinhoff, Deutschland 1933/34) oder den Film „Große Freiheit Nr. 7“ (Helmut Käutner, Deutschland 1943/44), sondern unternimmt vor allem eine „analytische Untersuchung der gesamten melodramatischen Filmproduktion der NS-Zeit“. Hierzu organisiert sie den Aufbau ihrer Untersuchung in „Zwei-Jahresperioden“: „Illusion und Kontinuität 1933/34“, „Präsentation und Expansion: 1935/36“, „Verschleierung und Innehalten: 1937/38“, „Projektion und Inversion: 1939/40“, „Spaltung und Wechsel: 1941/1942“ sowie „Desillusionierung und Imagination: 1944/45“.

Theoretisch und methodisch stützt sich Pohl insbesondere auf Ansätze der Diskurs- und der Genretheorie, wobei die „verschiedenen filmanalytischen Zugänge“ einander nicht ausschließen sondern vielmehr ergänzen. So gelangt sie zu manch überraschender Erkenntnis, wie etwa derjenigen, dass die auch in filmischen Melodramen der Zeit verwandten „ironisierenden und übersteigernden Elemente“ und die „Verlagerung des dominanten, in der Regel männlichen point of view“ durchaus einen „irritierende[n] bis erschütternde[n] Prozess der Rezeption“ ermöglichen, welche die seinerzeit „vorherrschende[n]“ bürgerlichen und nationalsozialistischen Ideologien „emotional unterwandert“, so dass diese vom Publikum auch „intellektuell hinterfragt“ werden können. Allerdings sei „unübersehbar“, dass „eine besondere Affinität des Melodrams in Bezug auf Funktionalisierbarkeit für ideologische Kontexte“ bestehe, sei diese nun affirmativ oder subversiv.

Zwar bleibe das filmische Melodram über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg „seinen bürgerlichen Wurzeln verhaftet“, doch entwickelten melodramatisch erzählende Filme in den zwölf Jahren der nationalspezialistischen Herrschaft; „eine breite ideologische Palette, die vom utopisch-emanzipatorischen Impetus […] bis zur formalästhetisch und inhaltlich vollzogenen Einordnung in bestehende (geschlechter-)hierarchische Strukturen […] reichte“, lautet Pohls Fazit. So „spiegelten“ sie nicht nur „die zustimmende Haltung“, sondern ebenso „die Distanz und die Konflikte wider, in denen ein wachsender Teil der deutschen Bevölkerung zum NS-System stand“.

R.L.

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Astrid Pohl: TränenReiche BürgerTräume. Wunsch und Wirklichkeit in deutschsprachigen Filmmelodramen 1933-1945.
edition text & kritik, München 2009.
430 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783869160061

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