Im Herzen der Finsternis
Zu den Neuausgaben von Mark Twains „Tom Sawyer“, „Huckleberry Finn“ und „Knallkopf Wilson“
Von Mark-Georg Dehrmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas Mark-Twain-Jahr hat in Deutschland einige schöne Dinge gebracht. Alexander Pechmanns Übersetzung von Briefen an Livy Langdon und die Reportagen aus Hawaii sind sorgfältig gemacht und bemerkenswert. Erfreulich ist auch, dass Zweitausendeins einen Band mit Erzählungen (übersetzt von Harald Raykowski) herausbrachte. Sie hatten wohl schon im Jahr 2001 bei Haffmans erscheinen sollen, waren aber mit dem Verlag untergegangen. Ansonsten aber konkurrieren auf den Gabentischen der Buchhandlungen verschiedene Verlage mit Taschenbuchneuauflagen weniger Titel. Eine wirklich große Überraschung, die die Reihe der im Deutschen verfügbaren Werke erweitert hätte, wurde nicht gewagt.
Das deutet auf ein eigentümliches Schicksal Mark Twains in Deutschland und gewiss auch sonst außerhalb der USA hin. Sein Name ist auf Gedeih und Verderb an Tom Sawyer, Huck Finn, Jim und Indianer Joe geknüpft. In ihrem Schatten verschwindet das restliche Werk. Dabei ist es so umfangreich wie gleichfalls komisch und klug. Dass man nicht nur bei Tom und Huck, sondern auch dort Schätze entdecken kann, belegt einmal mehr der bei Manesse wieder aufgelegte, kleine Roman „Knallkopf Wilson“. Doch dazu erst weiter unten.
Denn der Vortritt gebührt Huckleberry Finn und Tom Sawyer. Sie bekamen in diesem Jahr einen großen Auftritt. Andreas Nohl hat die Romane vollständig neu übersetzt. Erschienen sind sie bei Hanser, deren lockere Reihe von Klassikern der Weltliteratur zum schönsten gehört, was deutsche Verlage momentan produzieren.
Sicher ist es gerechtfertigt, dass von Twains Werken gerade „Tom Sawyer“ und „Huck Finn“ zur Weltliteratur zu zählen. Beide Romane sind archetypisch, sie stehen geradezu für ,Kindheit’ schlechthin. Wie verblüffend, wie geradezu unheimlich nah liegen die Gegend um St. Petersburg, Missouri, und die offene Weite des Mississippi den Orten der eigenen Kindheit. In einer sophistischen Laune könnte man geradezu vermuten, dass erst Mark Twain der Kindheit die Form gegeben hat, in der wir sie kennen – zumindest dort, wo es kulturelle, soziale und ökonomische Faktoren erlauben. Und zweifellos haben Tom und Huck Generationen von Kindern in vielen Teilen der Welt geprägt. Aber letztlich erklärt das nicht die intime Kenntnis, die die Bücher von der eigenen Kindheit zu besitzen scheinen, vom Ruf des Schatzes, der im feuchten Gehölz des Stadtwaldes verborgen sein muss, von den Zelten und Hütten, in denen man plant, wie man ihn, allen Gefahren die Stirn bietend, hebt; aber auch von dem gleichzeitig würgenden und unendlich wohligen Trotz, mit dem man sich, im dunklen Versteck kauernd, ausmalt, wie traurig und reuevoll die Eltern auf die Nachricht reagieren werden, man sei verschwunden und wahrscheinlich tot.
Mark Twains Bücher sind nicht erst dadurch archetypisch geworden, dass sie jeder kennt. Auch wer die Romane als Kind nicht gelesen hat, wird sich doch in ihnen wiederfinden. Es scheint vielmehr, dass das Amerika der 1830er-Jahre paradoxerweise eine entschiedene Affinität zu dem besitzt, was Kindheit in modernen Industriestaaten auszeichnet – besser gesagt, nicht die amerikanischen Südstaaten jener Zeit selbst, sondern die Art und Weise, wie Mark Twain sie Jahrzehnte später imaginierte: als ein Land, das durch spärliche Besiedlung und geringe Kultivierung so immens offen ist wie die Welt der Kindheit selbst mit ihren diffusen, aber bestimmt großen Erwartungen; ein Land, in dem man sich über nichts und über alles wundern kann, je nachdem, wer oder was man gerade zu sein und zu tun beschlossen hat; ein Land schließlich, in dem der Ernst wie Spiel erscheint und das Spiel wie Ernst, in dem man Schätze finden kann und wo sich wie aus dem Nichts ein Lynchmob bildet.
Die Romane konnten erst geschrieben werden, als ihre Orte für Mark Twain selbst verloren waren. Aber ihre fundamentale Stärke besteht darin, dass sie die Welt der Kindheit nicht als eine wiederzugewinnende zeigen, sondern als eine ewige, die gar nicht vergehen kann. Bei Proust gewinnt die Kindheit als verlorene so scharfe Konturen, dass sie mit ihrer überklaren Schönheit nur umso schmerzhafter in die Seele schneidet. Twains Genie dagegen liegt darin, dass er der Kindheit, wie er sie zeigen wollte, eine ewige Gegenwärtigkeit verleihen konnte. Nur erwachsene Leser, die die Erfahrung des Verlustes teilen, erkennen, dass auch diese Welt das Fantasma einer vergangenen Kindheit ist. „Tom Sawyer“ und „Huck Finn“ eröffnen ihnen einen Weg zurück in den Zustand der Zeitlosigkeit, den Kindheit auch bedeutet. Aber die Bücher selbst tun alles, um das Bewusstsein von Zeit und ihrem Vergehen zu suspendieren. Die Wehmut der Erwachsenen hat in ihnen keinen Platz. Und genau deshalb sind sie auch für Kinder so begeisternd.
Unersetzlich sind „Tom“ und „Huck“ aber auch, weil sie Kindheit in einer ganz anderen Weise ernst nehmen. Immer wieder fällt auf, wie brutal und blutig diese notdürftig kultivierten Landstriche am Mississippi sind. Das trifft nicht nur für die Sklaverei zu, sondern insgesamt. Aber diese Welt ist auf beiläufige Weise grausam. Mal wird das Böse mit dem burlesken, grotesken Witz verwoben; so, wie in der Handlung um den Herzog und den König in „Huck Finn“ Zirkusvorstellung und Lynchmob problemlos ineinander übergehen können. Mal erscheint das Böse plötzlich und vernichtet sinnlos; man denke an den Paroxysmus, in dem sich die Familien der Grangerfords und Shepherdsons gegenseitig ausradieren. Von solchen grellen Blitzen der Gewalt geblendet, ist man für einen Moment überzeugt, dass das Herz der Finsternis mitten in Amerika liegt. Aber der Mississippi fließt weiter. Er verbindet alles, und er verfremdet alles, so wie die Axt des Holzhackers fern auf der immensen Wasserfläche immer dann „Tschack“ macht, wenn sie, zum nächsten Schlag erhoben, über seinem Kopf schwebt. Weil der Fluss indifferent ist, werden die Dinge auf ihm surreal. Und deshalb ermöglicht er auch Epiphanien der Schönheit und Unendlichkeit.
Hieraus gewinnen beide Bücher ihre Kraft, vor allem aber „Huck Finn“. Twain will seine Leser – und vor allem auch die Kinder – nicht abschirmen gegen das Böse, das sie umgeben mag. Er unterschätzt Kindheit nicht, anders als es manche selbsternannten oder ausgebildeten Pädagogen tun. Es genügt, hier an Hucks Vater zu erinnern, den Säufer und Schläger, der seinen Sohn auf übelste Weise misshandelt – Kindheit ist gefährdet, aber die Bücher bestehen darauf, dass sie in der Gefahr auch Resistenzen entwickeln kann. Sie selbst sind eine kräftigende Nahrung und wollen die natürliche Robustheit von Kindern fördern, ihre Fähigkeit, sich einen eigenen Reim auf den bitteren Realismus der Erwachsenenwelt zu machen. Vor allem Hucks stoisches détachement ist geradezu eine Anleitung dazu. Nicht zuletzt deswegen wurden die beiden Bücher seit ihrem Erscheinen immer wieder auch angefeindet: von Erwachsenen, die glauben, sie würden Kindheit rein und unschuldig erhalten, wenn sie es nur schafften, sie von den Bildern des Übels frei zu halten.
„Tom Sawyer“ und „Huck Finn“ sind Bücher für alle. Gerade deshalb erscheint an ihnen ein ganz anders gelagertes Problem in einer extremen Variante, als ein ganz spezifisches Paradox: das der Übersetzung. Sie sind Bücher, die sich nicht übersetzen lassen, die aber übersetzt werden müssen. Die Unübersetzbarkeit betrifft vor allem „Huck Finn“, dessen Ich-Erzählung für jeden Leser des Originals untrennbar mit Hucks Pike-County-Dialekt verwachsen ist. Hinzu kommen die anderen Dialekte, die den verschiedenen Figuren ihr je charakteristisches Gesicht geben. In „Tom Sawyer“ mildert die auktoriale Erzählung dieses Problem, aufgrund der Figurenrede besteht es jedoch auch dort. Betrachtet man beiden Romane in ihrer literarischen Eigenheit, so sind die charakteristischen „O-Töne“ aus dem Pike County nicht bloß Beiwerk, sondern geradezu das Fundament, auf dem diese ganze amerikanische Welt des Südens steht. Die Dialekte aber gehen bei einer Übersetzung notwendig verloren.
Wie gesagt, diese grundlegende Unmöglichkeit der Übersetzung ist gerade kein Argument gegen sie – eben weil „Tom Sawyer“ und „Huck Finn“ auf der anderen Seite so universal sind. Das Problem des Dialektes hat im Deutschen zu interessanten Lösungsversuchen geführt. Ein Beispiel ist die Version von Friedhelm Rathjen (erschienen 1997, noch bei Haffmans), der als Übersetzer immer wieder das Experiment der Popularität vorzieht und dadurch äußert produktiv provoziert. Rathjen versucht, die verschiedenen Dialekte des Originals im Deutschen durch unterschiedene Spracheigenheiten der Figuren darzustellen. Jims charakteristische Sprechweise übersetzt er in eine extrem abgeschliffene Rede mit charakteristischen Sprachgesten und einer Fülle von Elisionen. So interessant dieser Versuch ist, er birgt ein Problem: Die Dialekte des amerikanischen Originals existieren außerhalb der Übersetzung, die deutschen Sprachvarianten dagegen nicht. Das ist entscheidend, denn das Original lebt davon, dass der Leser dessen Sprache als charakteristisch wiedererkennt oder dass sich ihm zumindest erfolgreich der Eindruck vermittelt, er kenne sie von anderswoher. Dialekte bauen auf einen Realitätseffekt. In der Übersetzung aber lässt sich dieser nicht erzielen, denn jeder Leser weiß, dass es jene fabrizierte Sprache in der Wirklichkeit nie gegeben hat. Aus dem Realismus des Originals wird Manier.
Andreas Nohl hat sich in seiner Neuausgabe für die zweite Übersetzungsvariante entschieden, die sich im Falle des Dialektes bietet. Er greift zu einem Mittel, das auch Lore Krüger in ihrer unverächtlichen Übersetzung von „Tom“ und „Huck“ (innerhalb der „Gesammelten Werke“ bei Hanser, Band 1, München 1965) gewählt hat: Den Dialekt setzt er in eine abgeschliffene Alltagsrede um. Die sprachliche Charakteristik des Originals – und die Differenzierungen mittels der Dialekte – verblasst dabei. Die flapsige, witzige Idiomatik muss alleine tragen, was im Original durch Dialekt und Idiomatik gleistet wird. Aber das funktioniert in Nohls Übersetzung wunderbar. Sie beweist durchgehend Ökonomie und Witz. Dadurch schafft sie die fundamentalen Voraussetzungen, um den Humor der Originale aus seiner ,dialektalen Fundierung’ herauszulösen. Die Lektüre ist ein Vergnügen. Mehr kann bei dieser ,unmöglichen’, aber notwendigen Übersetzung nicht geleistet werden.
Wer weiter in Mark Twains Süden eindringen möchte, sollte zu dem schon genannten kleinen Roman „Knallkopf Wilson“ von 1894 greifen. Manesse hat mit seiner Neuausgabe die Übersetzung von Reinhild Böhnke ‚gerettet‘. Sie war schon einmal 1986 im Verlag Das neue Berlin erschienen, verschwand aber mit der Konkursmasse der DDR wieder (der Titel lautete damals „Wilson der Spinner“, 1988 gab es eine zweite Ausgabe als „Roman-Zeitung“ bei Volk und Welt). Die gewohnt sorgfältige Herstellung und ein schönes Nachwort des Anglisten Manfred Pfister verhelfen diesem großartigen kleinen Roman zu einem angemessenen neuen Leben.
„Wilson“ spielt in derselben Landschaft, in der Toms und Hucks St. Petersburg liegt. Im eingangs behaglich geschilderten Nest Dawsons Landing vertauscht die Sklavin Roxy – eine Mestizin, deren Hautfarbe schon längst weiß ist – das Baby ihrer Herrin mit ihrem eigenen Kind. Während das ursprüngliche Herrenkind sich als Sklave unauffällig entwickelt, herzensgut wird und ganz selbstverständlich in den Habitus seiner Leidensgenossen hineinwächst, entpuppt sich der untergeschobene Herr als veritabler Teufel. Heimlich raubt und stielt er, schließlich ermordet er seinen scheinbaren Vater.
Ganz nebenbei wird hier Sklaverei als ein Machtverhältnis dekonstruiert, das auf rein imaginären Annahmen beruht. Aber damit lässt Twain es nicht bewenden. Neben die weiße Schwarze Roxy stellt er zwei weltberühmte italienische Zwillinge, die beschlossen haben, in Dawsons Landing heimisch zu werden. Und schließlich ist da der Titelheld: Wilson ist ein extrem erfolgloser Anwalt und nebenbei ein brillanter Aphoristiker. In seiner Freizeit sammelt er die Fingerabdrücke der Dorfbewohner. Nicht zuletzt dieses hobby horse hat ihm im Dorf den Namen „Knallkopf“ eingetragen (im Original: „Pudd’nhead“). Das ist den Bewohnern von Dawsons Landing kaum zu verdenken: Um die Jahrhundertmitte, wo der Roman spielt, dachte niemand daran, dass Francis Galton 1892 in London die Struktur der Fingerkuppen als untrügliches individuelles Erkennungszeichen vorstellen würde (entwickelt wurde diese Technik allerdings einige Zeit vorher in den indischen Kolonien). Und noch Jahrzehnte nach dem Erscheinen von „Knallkopf Wilson“ konnten Detektivromane ihrem Publikum den Fingerabdruck als kriminalistische Innovation präsentieren (so etwa Edmund C. Bentleys „Trent’s Last Case“ von 1913 und selbst noch die frühen Romane von Agatha Christie).
Wilson sorgt dafür, dass die in vielen Farben schimmernde Geschichte am Ende im Genre der Detektiverzählung zur Ruhe kommt. Wie Twain die verschiedenen Stränge seiner Erzählung verknüpft, das zeugt von großer Eleganz. Der Leser versteht schon sehr früh, worin die Pointe des Plots liegen wird; er soll es aber auch. Denn ein außerordentlicher Reiz der Geschichte liegt in der so erreichten suspense: in der Frage, ob und auf welche Weise Twain dies alles in ein und derselben Story zu jonglieren versteht. Ihm gelingt nicht nur das, sondern ihm entgleiten außerdem weder der leicht groteske Humor der Geschichte noch ihr Ernst, die Destruktion von Rassismus und Sklaverei. Selbst wenn „Tom Sawyer“ und vor allem „Huckleberry Finn“ unvergleichlich sind – Twain ist auch in seinen anderen Werken so gut, dass man sich eigentlich nichts entgehen lassen dürfte.
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