Mit Großmutter ins gelobte Land

In ihrem zweiten Roman „Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche“ erzählt Alina Bronsky episodenreich von drei Frauen und ihrer Suche nach Glück und Unabhängigkeit

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sie heißen „Kyskybyj, auch Kusimjak genannt“, „Katyk“ oder „Gubadia“ und Rosalinda Kalganowa, selbst tatarischer Abstammung und Alina Bronskys Ich-Erzählerin, hat sie wohl nie selbst gekocht. Dennoch: „Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche“ stehen für eine Tradition, von der Bronskys Heldinnen sich im Verlaufe des Buches immer weiter entfernen, ohne die Nabelschnur, die sie an ihre Herkunft bindet, letztlich ganz durchschneiden zu können.

Die 32-jährige Autorin, der mit „Scherbenpark“ vor zwei Jahren ein Überraschungserfolg gelang, erzählt in ihrem zweiten Roman von einer starken Frau und ihrem immer seltsamere Züge annehmenden Kampf um das Glück ihrer kleinen Familie. Dazu zählen vor allem die Tochter und zwei Enkelinnen, von denen eine durch die Auswanderung des zweiten Schwiegersohns nach Israel schon bald dem Einfluss der Großmutter entzogen wird. Umso stärker krallt Rosa sich an der anderen, Aminat, fest. Mit deren – ungewollter – Geburt setzt der Roman auch ein. Weil eine Engelmacherin aus der Nachbarschaft bei der Abtreibung gepfuscht hat, ist nur der eine Teil des Zwillingspärchens abgegangen. Der andere, ein Mädchen, wird im Dezember 1978 in der „Entbindungsklinik Nr. 134“ zur Welt gebracht und muss, weil Sulfia, die Mutter des Babys, keine Idee hat, wer der Vater sein könnte, als unfreiwilliges Produkt einer Vergewaltigung seinen Lebensweg beginnen.

„Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche“ verfolgt Rosas, Sulfias und Aminats Weg fortan über knapp zweieinhalb Jahrzehnte. Aus dem Vielvölkerstaat Sowjetunion führt er die drei Generationen angehörenden Frauen nach dem Zusammenbruch des Riesenreichs bis ins Nachwende-Deutschland, wo ein pädophiler Kochbuchautor als Sprungbrett in ein besseres Leben herhalten soll. Ob diese Zukunft, für die Rosa bereit ist, alles zu opfern, letzten Endes so grandios wie erhofft ausfallen wird, steht allerdings von vornherein in Frage. Am Ende des Romans jedenfalls ist die ihr Ziel scheinbar so verschlagen wie unbeirrt verfolgende Patriarchin wieder ganz allein, die Tochter tot, die Enkelin im Scheinglück des Gewinns einer Fernseh-Castingshow à la DSDS gefangen – vermarktet als „tatarisches Waisenkind“ und „magersüchtiges Missbrauchsopfer“.

Es kostet den Leser nicht wenig Kraft, der Erzählstimme dieses Romans zu lauschen. Denn Rosalinda Kalganowa, die sich ihrer Umwelt in jeder Beziehung überlegen fühlt und aus deren Perspektive wir das Geschehen erleben, nimmt wahrlich kein Blatt vor den Mund. Weder die Tochter Sulfia noch die beiden Enkelinnen Aminat und Jelena werden geschont, wenn das weibliche Familienoberhaupt – scheinbar kalt bis ans Herz – seine Ansichten ausbreitet. Niemand kann es ihr rechtmachen, keiner hat auch nur die geringste Chance, in ihren Augen zu bestehen. Körperliche Mängel übertreibt sie, Unsicherheit und fehlende geistige Beweglichkeit werden von ihr als Signale familiärer Degeneration interpretiert, die es unbarmherzig zu bekämpfen gilt. Dass ihre harten, manchmal regelrecht schockierenden Urteile über die anderen Sippenmitglieder zu einem nicht geringen Teil eigenen Erfahrungen geschuldet sind, begreift man allerdings schon bald. Sympathisch werden will einem diese Figur, da sie offensichtlich nichts gelten lässt neben den eigenen Ansichten, dennoch nicht, obwohl die Autorin mit ihrem dem Text vorangestellten Motto darauf zielt, einen Weg hinter den Panzer dieser Frau zu weisen, die das Leben einerseits unnachgiebig gemacht hat, die aber andererseits mit der Weitergabe dieser Haltung an die nachfolgenden Generationen nichts anderes bezweckt, als deren eigenen Weg zu erleichtern.

Indem Alina Bronsky ihrer übermächtigen Heldin die uneingeschränkte Macht über das Erzählte verleiht, schafft sie aber auch die nicht zu übersehenden Probleme dieses Romans. Denn nicht alles, was Rosalinda Kalganowa dem Leser im Laufe von knapp dreihundert Seiten mitteilt, ist wirklich mitteilenswert. So steht der tragische Tod der nach Russland zur Pflege des Vaters zurückgekehrten Sulfia auf einer Stufe mit banalen Fahrschulepisoden, Liebes- und anderen Abenteuern beim Putzen, Skiurlauben samt lebensgefährlichen Abfahrten et cetera. Erzählökonomie, Konzentration auf das Wesentliche wären wichtig gewesen – allein man vermisst sie gar zu oft. Und auch die eine oder andere Metapher mutet unfreiwillig komisch an: so die Augen, die „dunkel und rund wie Rosinen“ das Zimmer „abwandern“, der Leib Rosas, der „innen hohl und unfruchtbar wie der Sand in der Wüste“ ist oder die Aufforderung „Dann krepier doch!“, die ein Schweizer Berg der ihn mit Skiern hinabfahrenden Protagonistin ins Gesicht „schmeißt“.

Demgegenüber finden sich aber auch viele gelungene Geschichten. Etwa die Einkehr von Mutter und Tochter in Moskaus erstem McDonalds-Restaurant, das den vom darbenden Land in die Stadt der Oligarchen Kommenden wie eine Art Zauberreich erscheint. Oder die Beiläufigkeit, mit der Bronskys Protagonistin sämtliche Männer, mit denen die Familie in Berührung kommt, behandelt. Männer haben in der Welt dieser starken und unnachgiebigen Frau ohnehin keinen festen Platz. Von Rosa werden sie konsequent auf zwei Funktionen reduziert: Bettgespiele oder potenzieller Ernährer – wobei der den Weg der Familie ins gelobte Land eröffnende Deutsche Dieter Rossmann, der sich ein bisschen zu sehr um die Enkelin Aminat und ein bisschen zu wenig um die Tochter Sulfia bemüht, in beiden Rollen durchfällt.

Und schließlich ist da noch die beiläufige Ironie, mit der die Verhältnisse in der späten Sowjetunion geschildert werden. Wohnungsknappheit und Versorgungsengpässe, Schlangestehen und Selbsterniedrigung, Korruption und Bestechung als Mittel zum Überleben – schon die wenigen Blicke, die der Roman in diese Welt wirft, in der der Mensch entgegen allen offiziellen Versprechungen der herrschenden Ideologie keineswegs im Mittelpunkt stand, reichen aus, um Verständnis für den Charakter von Bronskys Heldin aufzubringen. Denn wo es nicht um den Einzelnen ging, sondern lediglich um das Fantasma eines von jeglicher Subjektivität befreiten menschlichen Ideals, mutet Rosalinda Kalganowas Beharren auf dem eigenen Standpunkt als dem einzig vertretbaren fast ein bisschen wie Widerstand an.

Titelbild

Alina Bronsky: Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010.
319 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783462042351

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