Schwinde(l)nde Expertenmacht
Uwe Wirth und Safia Azzouni haben einen Band über den „Dilettantismus als Beruf“ herausgegeben
Von Claudia Schmölders
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSelten findet man Sammelbände so professionell komponiert wie diesen über „Dilettantismus als Beruf“. Uwe Wirth, ausgewiesener Peirceaner und Meister des „abduktiven“ Denkens und die Wissenschaftshistorikerin Safia Azzouni haben mit einer gemeinsamen Tagung der beiden Berliner Institute MPI für Wissenschaftsgeschichte und Zentrum für Literaturforschung eine der seltenen Kooperationen zwischen Kultur- und Naturwissenschaft zustande gebracht; bemerkenswert schon als solche, bemerkenswert aber auch, weil es um ein Stück besonders schillernder Ideengeschichte geht.
Die Beiträge handeln über Philologie als Liebhaberei apriori (Stefan Willer); über Musils womöglich unerwiderte Liebe zur Mathematik (Stefan Willer); über das Übersetzungsgenie des dichtenden Botanikers Chamisso (Marie-Theres Federhofer) sowie die Amateur-Linné-Bewegung in Schweden (Jenny Beckmann); über Wilhelm Bölsches Orientierungsleistungen (Safia Azzouni); über die wirre „Welteislehre“ des Hanns Hörbiger als erfolgreicher Geschäftsidee (Christina Wessely); über ein „Institut für Erfindungen“ im Ersten Weltkrieg (Markus Krajewski); über Helmholtz als Musik-Dilettanten (Julia Kursell); über die Idee der Laienanalyse in der Psychoanalyse und über die Dilettanten in der modernen Kunst (Barbara Wittmann) sowie schließlich über „Dilettantismus und Professionalität im Pop-Diskurs“ (Eckhard Schumacher).
„Dilettantismus als Beruf“: Auf der Folie von Max Webers berühmtem Aufsatz über „Wissenschaft als Beruf“ wird hier der Ton eines Diskurses abgebildet, als keineswegs abgeschlossener, vielmehr fast anschwellender Bocksgesang. Dilettant, Laie, Autodidakt, Amateur sind nur einige Stichworte aus dem Ideenfeld, das bekanntlich seit jeher vor allem den Handwerkern in Wissenschaft und Technik contre coeur läuft. Handwerker kennen Lehrjahre und Lehrlinge, Gesellen und Meister, Handwerksbriefe und Zünfte, Exklusion und Inklusion also. Je mehr sich Disziplinen entfalten, je mehr Fächer, Professionen, Akademien und Universitäten entstehen, desto mehr Laienwissen wird an den Rand gedrängt (Frauengeschichte ist in diesem Band kein Thema).
Der echte Dilettant um 1800 allerdings betrieb seine Tätigkeit gerade nicht zunftmäßig, sondern als begüterter Liebhaber des jeweiligen Wissens. Und dieses schloss Genialität nicht aus, verlangte sie vielmehr geradezu. Viele Naturforscher vor und um 1800 haben ihre Forschungen ohne Akademien, Zeitschriften, öffentliche Gelder und vor allem ohne Anträge betrieben: Goethe, Charles Buffon, Diderot, Alexander und Wilhelm von Humboldt, die Brüder Grimm hinterließen gewaltige Werke von außerordentlicher Perfektion.
Dilettanten haben nicht nur oft gute Einfälle, sondern oft auch ungewöhnlich breite Bildung, fand Jacob Burckhardt. Dass, aber vor allem wie sie der Exklusion durch wachsende Professionalisierung widerstanden oder mit ihr gespielt haben, belegt das anzuzeigende Buch. Wirth spricht mit Michel Foucault sogar von einem „dilettantischen Dispositiv“ als einem forschungspolitischen Machtspiel, das Dilettanten und professionelle Wissenschaftler gemeinsam spielen. Es werde durch eine „Ökonomie der Diskurse der Wahrheit“ gesteuert, die eine Institutionalisierung der neuen „epistemischen Szene“ anstreben, also Professionalisierung im Sinne Max Webers, dem das Buch ein Schlüsselzitat verdankt: „Der Dilettant unterscheidet sich vom Fachmann […] nur dadurch, daß ihm die feste Sicherheit der Arbeitsmethode fehlt, und daß er daher den Einfall meist nicht in seiner Tragweite nachzukontrollieren und abzuschätzen oder durchzuführen in der Lage ist.“
Weil dieses „nur“ heutzutage immer größer geschrieben wird, paßt auch das Timing des Buches hervorragend. Das „dilettantische Dispositiv“ ist – wieder? – eine gesuchte Figuration. Längst haben ihr Claude Levi-Strauss mit dem berühmten „Bastler“ und seiner Bricolage und neuerdings wieder Michel de Certeau eine Bühne bereitet. Das neue Heft der Zeitschrift für Ideengeschichte nennt den „Idioten“ als Schwerpunktthema; gewichtige Bücher zur Philosophie des Laien erscheinen (von Hans Blumenberg und Luc Boltanski). Auch in den Medien gibt es eine wachsende Laienbewegung: Blogger verdrängen den Journalisten vom Fach, Amateure rezensieren bei amazon; NGOs wirken in allen möglichen Entscheidungsprozessen durch plebiszitäre Aktionen, und umgekehrt, nutzen Repräsentanten wie Barack Obama oder neuerdings Joachim Gauck das elektronische Plebiszit.
Die Idee des Dilettanten hat ihre Vorgeschichte aber nicht nur im Plebiszit, sondern auch in der Pathologie: eben in der Idee des Idioten, wie sie der akademische Diskurs unweigerlich erzeugt. Fjodor Dostojewskis Fürst Myschkin, mit seiner unheimlichen physiognomischen Begabung, vertritt den Typus der Intuition, den die Zunft nicht dulden kann, aber dennoch braucht.
So tauchten um 1900 dann neue Verwandte mit fest umrissenen Aufgaben auf: der Amateur im Herzen der Fotografie bei Kunstwaltern wie Alfred Lichtwark, die Figur des Kindes als Sachwalter der Menschenwelt, von Ellen Key 1900 proklamiert, und nicht zuletzt der Popularwissenschaftler, wie ihn Safia Azzouni am Beispiel Wilhelm Bölsches beschreibt. Uwe Wirth spricht vom Dilettanten schließlich sogar als einem „epistemic hero“ und verweist auf Paul Feyerabends Lob des „klugen Laien“. Fast alle Entdeckungen stammen demnach von Außenseitern: Albert Einstein, Niels Bohr, Max Born, Heinrich Schliemann usw. Sie alle entwerfen neue „epistemische Szenen“, die dann in Wissenschaftsfelder verwandelt oder von schon vorhandenen integriert werden.
Aber richtig ist auch: Wer nicht integriert wird, kann immer noch Geschäfte und Karriere machen. Gerade die Grenzfiguren im „dilettantischen Dispositiv“, oft charismatische Pseudowissenschaftler wie Hanns Hörbiger oder Rudolf Steiner, konnten ganze gesellschaftliche Gruppen mobilisieren, und die Zeit um 1900 war für sie besonders anfällig. Nicht zuletzt Adolf Hitler, der ewige Dilettant als Maler, Musiker, Politiker und Heerführer, hat unter diesen Vorzeichen reüssiert. Gespenstisch, dass selbst Sigmund Freud lebenslang um (natur)wissenschaftliche Anerkennung werben musste und die Dynamik von Exklusion/Inklusion in der eigenen Schulbildung exzessiv inszenierte.
Das Interesse am Dilettanten verrät schwindende Expertenmacht. Es touchiert ein zeitgenössisches Dilemma, das gerade jetzt die Klimakatastrophentheorie verdeutlicht. Können uns die Experten das richtige Leben ermöglichen? Sind sie nicht – siehe unsere Finanzexperten – geradezu unser Untergang?
Andererseits kursieren wenige Wörter so hitzig im Kulturbetrieb wie das Gegenwort zum Dilettanten, das Wort „professionell“. Alles, und gerade der Kulturmarkt, muss professionell gemanaged werden. Da er sich mehr und mehr agonal ausdifferenziert – mit Preisvergaben und Konkurrenz – ist das Wort „professionell“ längst synonym mit „cool“. Autoren, die Kritik oder Niederlagen übelnehmen, reagieren angeblich nicht professionell.
Dass der Dilettant womöglich viel mit Kultur und also Kulturwissenschaft zu tun haben könnte, dokumentiert dieser Band also nicht nur beiläufig, sondern zentral. Sowohl die Einleitung von Uwe Wirth als auch der letzte Beitrag über Popkultur rücken die Kulturwissenschaft als höheren Dilettantismus unter den akademischen Disziplinen ins Blickfeld. Eckhard Schumachers Text über „Existentialismus und Dilettantismus im Popdiskurs“ mündet geradezu in die These: diese Kulturwissenschaft mit ihrer mangelnden Ordnung, mangelnden Orientierung, – ist sie nicht eigentlich eine Unterhaltungs-Disziplin? Ein Pop-Fach?
Wirth stimmt dem von der andern Seite des Tunnels, aus Sicht des Lehrenden, zu. Auch für ihn ist die Kulturwissenschaft ein Fach eigener Art, zwar nicht Unterhaltung, wohl aber ein „anspruchsvolles Abenteuer“ des Geistes, mit „Mut zu Spaziergängen an den Grenzen oder über die Grenzen des Fachs hinweg“. Was würden die Handwerker sagen? Solche Spaziergänge dürfen sich nur die Meister erlauben.
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