Wie viel Lektüre hätten Sie denn gern?

Peter Eisenberg gibt einen Sammelband zur Diskussion um vereinfachte Schullektüre heraus

Von Clarissa HöschelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Clarissa Höschel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als im September 2008 Editions-, Literatur- und Sprachwissenschaftler, Lehrer, Verleger und Schulbuchmacher in Darmstadt zu einer internen Arbeitstagung zusammenkamen, hatten sie sich nichts Geringeres vorgenommen als die „Harmonisierung literarischer Texte für den Schulgebrauch“ zu diskutieren. Sechs Monate später, im April 2009, beschloss der Rat für deutsche Rechtschreibung, dieses Thema nicht weiter zu verfolgen. Was diese „Harmonisierung“, also die Anpassung literarischer Texte an den jugendlichen Rezipienten, so schwierig macht, lässt sich dem schmalen Bändchen entnehmen, das auf seinen gerade einmal 117 Seiten in 14 Beiträgen jene Tagung reflektiert und dabei praktisch das gesamte Spektrum der seit einigen Jahren immer wieder aufflammenden Diskussion um Bearbeitungen literarischer Texte für den kontrollierten Konsum in deutschen Bildungsanstalten entfaltet. Die Sammlung hat zum Ziel, so das Vorwort, „Aufmerksamkeit zu fokussieren und Anregungen zu geben.“

Von den insgesamt 16 Autoren sind neun Universitätsprofessoren, drei vertreten bekannte Verlage, zwei sind Lehrer, einer ist Psycholinguist und einer Autor von Klassikadaptationen. Entsprechend vielfältig sind die behandelten Themen: Um Editionen klassischer Texte geht es da, um Nachdichtungen und Bearbeitungen unterschiedlichster Ansprüche und Qualitäten, um Schulen, Schüler und Verlagskonzepte – mannigfaltige Annäherungen an die zentrale Frage, ob dem jugendlichen Rezipienten von heute ein literarischer Text in seiner Originalfassung noch zugemutet werden kann beziehungsweise wenn nicht, in welcher Weise diese Texte zu verändern seien. Doch genau dieser Fragestellung müsste eine ganz andere vorausgehen – nämlich die nach dem „jugendlichen Rezipienten“. Gibt es diesen als Stereotypen überhaupt?

Werfen wir den obligaten Blick zurück in die Zeiten des Bildungsbürgertums des 19. Jahrhunderts, als sich Literatur, so lehrt uns die Kulturgeschichte, an eine klar definierte Zielgruppe richtete, der literarisches Niveau der Texte und Sprachvermögen der Dichter Vorbild und Maßstab waren. Demgegenüber liegt das heutige Niveau durchschnittlicher Sprachbeherrschung deutlich unter dem der Literaturrezipienten des 19. Jahrhunderts, was zunächst einmal und ganz grundsätzlich dem Umstand geschuldet ist, dass sich seit den Tagen des Bildungsbürgertums ein deutlicher gesellschaftlicher Wandel vollzogen hat. Es darf allerdings angemerkt werden, dass auch das 19. Jahrhundert in gewisser Weise light-Fassungen der etablierten Literatur kennt – bereits Anfang des Jahrhunderts veröffentlichte Charles Lamb seine „Tales from Shakespeare“ und Gustav Schwabs „Sagen des klassischen Altertums“, noch heute ein Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur, sind bereits 1838 erschienen. Ferner gab es Autoren wie Eugenie Marlitt, die sich mit ihren Büchern an ein Publikum wandte, das beispielsweise die Texte Theodor Fontanes, die sich um sehr ähnliche Themen ranken, für zu schwere Kost hielt. Allerdings besteht der wesentliche Unterschied zwischen Gestern und Heute in der Tat darin, dass sich die heutige schulische Bildung wesentlich mehr an den Lernenden orientiert als zu Fontanes Zeiten, als sich die Eleven dem auch durch die Literatur vorgegebenen sprachlichen Niveau anzupassen hatten, während es heute – und damit sind wir wieder bei der aktuellen Debatte – zunehmend die Texte sind, die sich an ihre jugendlichen Leser anpassen sollen. Und dieser Paradigmenwechsel wiederum steht in einem engen Zusammenhang zu den bereits erwähnten gesellschaftlichen Veränderungen. Spätestens bei diesem Gedankenspiel beginnt man zu ahnen, weshalb die eingangs zitierte Arbeitstagung keine greifbaren Früchte tragen konnte. Doch gerade die Komplexität dieses Themas verlangt einen Denkprozess, dem sich niemand entziehen sollte, der in irgendeiner Form mit Sprache, Literatur und Jugend zu tun hat. Soll man oder soll man nicht? Und wenn ja, in welcher Weise und in welcher Dosis? Diese Fragen beschäftigen Schriftsteller und Literatur-Puristen ebenso wie Verlage und nicht zuletzt auch diejenigen, die sich tagtäglich dem Deutsch- und Literaturunterricht für Jugendliche widmen.

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass es eine solche Diskussion in Bezug auf Fremdsprachen- oder Musikunterricht in dieser Form gar nicht gibt beziehungsweise dass es hier selbstverständlich ist, dass sich Lernende mit leichteren Fassungen schwieriger Stücke und Texte an das Original herantasten. Offenbar wird der Fremdsprachen- oder Musiklernende viel eher als „Lernender“ wahrgenommen als der Literaturlernende, der seinerseits sehr abhängig davon ist, was ihm von frühester Kindheit und Jugend an nahe gebracht wird. Fragt man sich dazu noch, wann und wie literarische Bildung eigentlich beginnt oder beginnen sollte, kommt man sehr schnell auf Kindheit und Elternhaus zurück. Hier können und soll(t)en die Grundlagen für das Verständnis des kulturhistorischen Kontextes gelegt werden, in den der spätere Jugendliche hineinwächst. Literatur ist dabei nur ein Teilaspekt und das Ganze ist selbstverständlich auch hier weitaus mehr als die Summe seiner Teile. Letztendlich geht es um nichts anderes als darum, Kinder neugierig zu machen auf die Welt, Interesse zu wecken für das eigene Lebensumfeld und Impulse zu geben zur Entwicklung eigener Interessen. Auch das Interesse am Lesen und an der Literatur wird durch das Erzählen von Stoffen, Motiven und Geschichten idealerweise schon lange vor der „Lesereife“ der jungen Leser geweckt. Die Lektüre der eigentlichen Texte profitiert dann von einer solchen Vorbereitung. Fehlt diese, müssen die Texte fast zwangsläufig schwierig und fremd wirken. Das Herabsetzen des literarischen Niveaus durch vereinfachte Lektüre-Ausgaben kann hier allerdings nur bedingt Abhilfe schaffen, denn es kann vor allem eines nicht: eine gute vor- und außerschulische Vorbereitung ersetzen. Umgekehrt sind aber adaptierte Lektüretexte wertvolle Hilfs- und Arbeitsmittel, wenn diese Vorbereitung fehlt – auch dies ist eine der modernen Realitäten, über die vor allem in Lehrer- und Dozentenkreisen mehr oder weniger laut geklagt wird.

Allgemeingültige Empfehlungen will und kann der Sammelband nicht geben. Die dort versammelten Beiträge, so unterschiedlich sie auch auf den ersten Blick sind, vermitteln aber doch einige tiefer gehende Einsichten in heute bestehende Problematiken und liefern Denkanstöße zum eigenen Umgang mit Literatur für jugendliche Rezipienten. Dass der Begriff „Literatur“ dabei in keiner Weise abschrecken muss, ergibt sich wie von selbst, wenn man bewusst den Elfenbeinturm demontiert, in den „die Literatur“ so gerne verbannt wird. Literarisches Verständnis bedeutet in allererster Linie Lese- und Textverständnis und basiert damit zunächst einmal auf Sprachkompetenz – und diese ist auch in den alltäglichsten Situationen alles andere als überflüssig. Zudem ist Literatur oft auch ein kulturhistorischer Zugang zu einer anderen als der eigenen Realität, die anhand der Auseinandersetzung mit dem Text erlebbar gemacht werden kann. Und schließlich kann man nur lernen, was man noch nicht kann – eine gewisse Anforderung auch an den jugendlichen Leser ist gleichzeitig Förderung. Die weit verbreitete Angst vor Überforderung ist in Maßen legitim, doch stete Unterforderung – und dies gilt bei weitem nicht nur für den Umgang mit Literatur – ist langfristig kontraproduktiv.

Es steht außer Frage, dass den gesellschaftlichen Veränderungen auch im Umgang mit Literatur Rechnung getragen werden muss. Das darf aber nicht dazu führen, dass jede Anstrengung gescheut und jedes unbekannte Wort ersetzt wird – die schönsten Erfolgserlebnisse sind immer noch die, die man sich selbst erarbeitet hat.

Titelbild

Peter Eisenberg (Hg.): Der Jugend zuliebe. Literarische Texte, für die Schule verändert.
Wallstein Verlag, Göttingen 2010.
121 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783835306103

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