„Hier fühlt man sich wie ein Halbgott“

Elizabeth Harvey schreibt in „Der Osten braucht Dich!“ über Frauen und nationalsozialistische Germanisierungspolitik in Polen

Von Armin NolzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Armin Nolzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Oktober 1940 schrieb Gertrud F., eine 20 Jahre alte Studentin, einer Freundin einen längeren Brief, in dem sie von ihrem Einsatz im so genannten Reichsgau Wartheland erzählte. In diesem Gebiet, vom NS-Regime im Oktober 1939 annektiert, lebten zu diesem Zeitpunkt mehr als vier Millionen Menschen, davon 85 Prozent Polen, acht Prozent Juden und nur sieben Prozent Deutsche. Aus diesem Grund betrieben die NS-Behörden seit Beginn der Okkupation eine Politik rigoroser „Germanisierung“, in deren Verlauf sie Hunderttausende Polen ins angrenzende Generalgouvernement vertrieben und fast alle Juden im Vernichtungslager Chelmno ermordeten. Gertrud F. war in den „Reichsgau Wartheland“ gekommen, um die dort angesiedelten, in der Regel aus der Ukraine stammenden „Volksdeutschen“ zu betreuen. Begeistert berichtete sie ihrer Freundin von jenen schier unbegrenzten Möglichkeiten, die sie dabei besaß. „Hier fühlt man sich wie ein Halbgott“, so Gertrud F. voller Emphase. „Im Dorf“, so fuhr sie fort, stehe „außer dem lieben Gott“ auch niemand mehr über einem. Es schien, als habe sie in den wenigen Wochen ihres Einsatzes ein nie zuvor gekanntes Maß an individueller Freiheit genossen.

Die Frage nach den weiblichen Handlungsspielräumen steht im Zentrum der vorliegenden Monografie, in der Elizabeth Harvey die Mitwirkung von Frauen an der NS-Germanisierungspolitik im besetzten Polen analysiert und die bereits 2003 im englischen Original erschien. Für die deutsche Erstausgabe hat die Autorin, die in Nottingham deutsche Geschichte lehrt, ihr Buch grundlegend überarbeitet (was sie, viel zu bescheiden, nur in der Danksagung kurz erwähnt). Sie hat die Gliederung gestrafft, die neuere, mittlerweile überbordende Literatur zur NS-Besatzungspolitik in Polen systematisch eingearbeitet und hier und da einige Hypothesen zugespitzt. Harveys Kernaussagen sind unverändert geblieben. Junge, ledige Frauen aus dem Bürgertum, die weiblichen NS-Organisationen wie der Nationalsozialistischen Frauenschaft, dem Bund Deutscher Mädel oder auch der Arbeitsgemeinschaft nationalsozialistischer Studentinnen angehörten, meldeten sich freiwillig zum Einsatz in Polen. Dort wirkten sie in spezifisch weiblichen Tätigkeitsfeldern, die man am ehesten unter den Begriff der „Hilfe“ subsumieren könnte, an der NS-Germanisierungspolitik mit. Im Rahmen ihrer (durchaus begrenzten) Aufgaben besaßen die Frauen große, durch männliche Vorgesetzte kaum beeinträchtigte Handlungsspielräume. Mit ihren Aktivitäten zielten sie darauf ab, eine „Rassenhierarchie“ zwischen den „Volksdeutschen“ und den einheimischen Polen zu etablieren. Zu diesem Zweck schanzten sie den „Volksdeutschen“ Höfe, Mobiliar und andere Besitztümer vertriebener oder ermordeter Polen und Juden zu, brachten ihnen Deutsch bei und erzogen deren Kinder im Sinne der NS-Ideologie. Außerdem wussten oder ahnten die meisten Frauen, was mit den Juden nach der Deportation passierte. Sie waren insofern mittelbar in den Holocaust involviert.

Harvey nimmt vier Tätigkeitsfelder deutscher Frauen im besetzen Polen in ihren Blick: zum einen die „Siedlerbetreuung“ und die Rolle als Dorfschullehrerinnen im „Reichsgau Wartheland“, zum anderen die Aktivitäten als Kindergärtnerinnen und Dorfberaterinnen im Generalgouvernement, einem Gebiet, in dem zwar die Okkupationsverwaltung anders strukturiert war, die Bevölkerungsverteilung sich aber ähnlich gestaltete. Sie stützt sich auf eine Vielzahl zeitgenössischer Dokumente wie offizielle Berichte, Zeitungsartikel und amtliche Briefwechsel, aber auch auf Tagebücher ihrer Protagonistinnen. Auch hat die Autorin insgesamt 16 Interviews mit Frauen geführt, die während der NS-Zeit im besetzten Polen tätig gewesen waren. Diese Interviews werden in der Regel am Ende der jeweiligen Kapitel präsentiert, um die nachträglichen Selbstbilder der beteiligten Frauen herauszuarbeiten. Die Befragten stellen ihre eigenen Tätigkeiten als völlig unpolitisch dar, betonen zugleich aber auch die gelungene Etablierung eines Zusammengehörigkeitsgefühls mit den „Volksdeutschen“. Viele Frauen erinnern sich auch mehr als ein halbes Jahrhundert später mit sichtlicher Genugtuung an ihr damaliges Gefühl, zum ersten Mal in ihrem Leben „jemand gewesen zu sein“. Harvey gelingt es, diese Erzählungen immer wieder kritisch zu brechen, indem sie sie mit den zeitgenössischen Quellen kontrastiert. Dabei geht es ihr nicht um eine vordergründige Entlarvung, sondern um den Nachweis, wie attraktiv der Nationalsozialismus für junge bürgerliche Frauen gewesen ist. Wohlweislich hütet sich Harvey zudem davor, ihre Untersuchungsgruppe pauschal zu Täterinnen zu erklären. Stattdessen spricht sie von „Mitwirkung“ oder „Komplizenschaft“ und lässt keinerlei Zweifel daran aufkommen, wie wichtig der Einsatz dieser Mitläuferinnen für das NS-Regime selbst war, zumal unter den Bedingungen des sich verschärfenden Mangels an männlichem Personal.

Harveys Pionierstudie, die ganz ausgezeichnet übersetzt worden ist, sind in den letzten Jahren einige wichtige Monografien zur Rolle von Frauen im NS-Staat gefolgt, die ihre Befunde differenziert und vertieft, in der Sache aber bestätigt haben. Ob es sich um Frauen in NS-Organisationen handelt, um „Wehrmachthelferinnen“, „braune Schwestern“, Hebammen oder die zahlenmäßig kleinere Gruppe der SS-Helferinnen: sie alle trugen entscheidend zur Stabilisierung des NS-Regimes bei. Gleichwohl bildete die Geschlechterdifferenz die maßgebliche Scheidelinie zwischen Männern und Frauen, denn Täterschaft, verstanden als Ausübung von körperlicher Gewalt, die bis zum Massenmord ging, blieb überwiegend eine männliche Domäne. Vergleichsweise wenig ist darüber bekannt, wie sich Frauen aus dem Arbeitermilieu im NS-Staat verhielten, denn die bisherige Forschung konzentriert sich fast ausschließlich auf das Bürgertum. Unabhängig von der Frage nach der Klassenspezifik weiblichen Verhaltens im NS-Staat bleibt eine beunruhigende Einsicht bestehen. Selbst so alltägliche und auf den ersten Blick unspektakuläre Arbeiten, wie sie Frauen im Rahmen ihrer Familien- und Berufstätigkeiten zu verrichten pflegten, waren für das Funktionieren des NS-Regimes offenbar unabdingbar. Es scheint dem Nationalsozialismus gelungen zu sein, spezifische Funktionsmechanismen zu etablieren, die eine Art universelle Komplizenschaft auch unter Frauen schufen. Die Durchdringung aller Lebensbereiche mit Politik war eines der zentralen Merkmale des NS-Regimes. Im Nationalsozialismus war selbst das Private noch politisch.

Titelbild

Elizabeth Harvey: "Der Osten braucht Dich!". Frauen und nationalsozialistische Germanisierungspolitik.
Hamburger Edition, Hamburg 2010.
476 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-13: 9783868542189

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