Alles ist voller Sinn

Mythen der Leiblichkeit in Bernhard Waldenfels´ Vorlesungen

Von Sabine KlomfaßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Klomfaß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kürzlich wurde ein Band mit Vorlesungen zur Phänomenologie der Leiblichkeit von Bernhard Waldenfels veröffentlicht. Der emeritierte Bochumer Professor versucht mit einer Konzeption des Leibes, die vor allem auf Husserl und Merleau-Ponty zurückgeführt werden kann, den cartesianischen Dualismus von Körper und Geist auf eine schon zuvor liegende Einheit zurückzuführen. So betont der Autor: "Aus der Sichtweise einer Phänomenologie des Leibes wird eine mögliche Spaltung keineswegs geleugnet, nur wird sie beschrieben als eine Dissoziation, als ein Auseinandertreten von Momenten, die innerlich zusammengehören." Das heißt am Beispiel des Sehens folgendes: Man kann in wissenschaftlichen Theorien zwar durchaus von einem körperlichen Vorgang des Reizempfangens sprechen, und von einem zweiten, nicht-körperlichen Vorgang der seelischen Synthese, der diese Reize zu einem Gegenstand komponiert, aber der Leib selbst entzieht sich diesem Dualismus: Er sieht und ist zugleich sichtbar, er berührt und ist zugleich berührbar. Leib sein heißt folglich, durch diese ambivalente Sinnlichkeit sinngebend und -empfangend in der Welt sein. Dementsprechend gibt Waldenfels dem alten Satz "Alles ist voller Götter" die daraus abgeleitete Bedeutung "Alles ist voller Sinn."

Dieser erste Einblick in die hervorzuhebende Fähigkeit des Autors, Mythen (die ja parallel zum Leib selbst die Funktion haben, sinnstiftend zu sein) in Bezug auf Leiblichkeit zu interpretieren, soll durch folgendes Beispiel weiter beleuchtet werden:

Die Stimme und der Blick sind, wie schon gesagt, ambivalente Phänomene in einer sich durch sie verändernden Welt. Die Entsprechung im Mythos findet der Blick in der Geschichte von Narziss und findet die Stimme in der von Echo. Während Echo allein dadurch existiert, dass sie auf die Stimmen der anderen antwortet, und ohne sie nichts ist, findet Narziss sein Begehren im Sich-selbst-Sehen, d. h. in seinem eigenen Spiegelbild. Beide zusammen stellen so den ständigen Fremd- und gleichzeitigen Selbstbezug des Leibes dar.

Waldenfels´ Buch hat zwei Vorzüge: Zum einen bietet es eine ausgesprochen leicht fassliche und grundlegende Einführung in die Leibthematik der Phänomenologie. Und zum anderen werden vor allem im hinteren Teil des Buches eine Reihe von Problemen abgehandelt, die auf der schon angesprochenen Grundannahme eines wahrnehmenden und zugleich wahrnehmbaren Leibes beruhen. Eines dieser schwierigen Vorkommnisse ist der Schlaf: Wir können zwar versuchen, ihn durch ein Schlafmittel willentlich herbeizuführen, doch erst ein Nachlassen unseres Willens leitet über zum Traum. Das Interessante daran ist, dass man niemals willentlich den Willen selbst aufgeben kann. So ist es der Schlaf, der uns einfängt und berührt: "Das Einschlafen geschieht so, dass aus einer Haltung, die ich einnehme, eine Situation wird, von der ich ergriffen werde."

Eine andere Situation, von der man auch in diesem Sinne angegangen wird, ist der Dialog: die Begegnung mit dem anderen Menschen, der sich dem eigenen Zugriff entzieht. Wenn jemand einen Satz beginnt, kann man selbst durchaus antizipieren, wie dieser Satz weitergehen wird. Die eigentlich 'gefährlichen' und zugleich wesentlichen Momente des Gesprächs sind jedoch die Sekunden zwischen den Sätzen, die Gedankenbrüche und die Geistesblitze. So sagt Waldenfels: "Unterbrechungen sind entscheidend für jeden Dialog, in dem Unerwartetes zu gewärtigen ist, in dem etwas auf dem Spiel steht, was sich nicht als eigene oder allgemeine Möglichkeit vorwegnehmen lässt. [...] Pausen und Zäsuren gleichen einer Windstille, wo noch offen ist, wohin der Wind sich dreht".

Auch ein Buch kann in diesem Sinne Momente enthalten, die nicht schon allgemein vorgezeichnet werden können, oder die mit ihrer Vorzeichnung jäh brechen. So finden sich bei Waldenfels einige Kapitel zur Geschlechtlichkeit, in denen differenziert Fragen skizziert und Antworten versucht werden, die in unserer immer noch männlich geprägten Gesellschaft als überflüssig gelten. Damit grenzt sich Waldenfels selbst von einer Gesellschaft ab, die man auch als 'geschlechtslose' charakterisieren könnte, weil die Mehrheit der Männer und Frauen unsere männlich-dominierte Gesellschaft als die ihre akzeptieren und gutheißen. Waldenfels stellt sich, wie gesagt, auf die Seite der wenigen, die davon ausgehen, dass die Fragen zur Gleichberechtigung von Mann und Frau durchaus noch nicht zufriedenstellend beantwortet sind, und der Umgang mit den geschlechtsspezifischen Unterschieden von der Gesellschaft noch nicht zufriedenstellend organisiert wurde.

Und dann wird der Leser oder die Leserin mit einem Bruch konfrontiert, bei dem Waldenfels völlig unerwartet behauptet: "Im Falle der Judenemanzipation geht es wie im Falle der Frauenemanzipation zunächst um das Erkämpfen von gleichen Rechten. Wenn dies allerdings die einzige Perspektive bleibt, dann verlieren die spezifischen Unterschiede, jene zwischen den Geschlechtern wie jene zwischen den religiösen und kulturellen Traditionen, an Kraft und Gewicht. Legt man den Akzent einseitig auf universale Rechte oder Regeln, dann droht die Gefahr, dass mit der Abschaffung der Geschlechtervorherrschaft auch die Geschlechterdifferenz verblasst." Es findet sich hier zum einen die fragwürdige Parallelsetzung von Juden- und Frauenemanzipation, und zum anderen die These, dass das Erreichen gleicher Rechte eine Vereinheitlichung der Geschlechter zur Folge habe. Durch diese Vermischung von kulturell-gesellschaftlichen und rechtlich-politischen Aspekten evoziert der Autor eine abschreckende Vision von 'Mannsweibern' und 'weibischen Männern', die unter dem Lichte von ein wenig gesundem Menschenverstand schlicht lächerlich anmutet. Dabei sollten doch zumindest der Anspruch auf gleiche Rechte und ebenso die Berechtigung dieses Anspruchs im Jahre 2000 selbstverständlich sein - wie gesagt: ein unerwarteter Bruch.

Titelbild

Bernhard Waldenfels: Das leibliche Selbst.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
400 Seiten, 14,20 EUR.
ISBN-10: 351829072X

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