Das Leben eines Billigarbeiters
Der Akademiker Frank Hertel taucht aus Geldnot für ein Jahr in die Welt der Billigfabrikarbeiter ein – und zieht in „Knochenarbeit. Ein Frontbericht aus der Wohlstandsgesellschaft“ seine sehr eigenen Schlüsse aus dieser Erfahrung
Von Jule D. Körber
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie erschreckendste Szene, die in „Knochenarbeit. Ein Frontbericht aus der Wohlstandsgesellschaft“ geschildert wird, kommt nach gut 80 Seiten also nachdem der studierte Soziologe Frank Hertel schon einige Zeit in der Backwarenfabrik gearbeitet hat.
Den Unfall seiner Arbeitskollegin Rosi kommentiert er am Ende des Kapitels trocken mit den Worten: „Es gibt Leute, die schauen dir beim Sterben zu und machen dabei Brotzeit. Das wusste ich vorher nicht“. Wären Waffen mit im Spiel, würde es klingen wie eine Schilderung aus einem Kriegsgebiet. Doch Frank Hertel war nicht im Krieg. Frank Hertel hat in einer Fabrik gearbeitet, die so effizient ist, dass in Deutschlands Discountern Brot verschwindend wenig kostet. Das hat die Fabrik auch ihren Arbeitern zu verdanken. „Ich musste einen Unfall miterleben, bei dem Rosi eine grüne Kiste auf den Kopf gefallen ist…. Einen Tag vor ihrem langersehnten Urlaub fiel ihr diese elende Kiste mit der Ecke voraus auf den Schädel. Plötzlich lag sie da und blutete. Was dann geschah, hat mich sehr erschüttert. Denn es geschah nichts. Natürlich liefen die Maschinen weiter auf Hochtouren. Wir waren schwer beschäftigt mit dem gewaltigen Strom tiefgekühlten Kleingebäcks. Es war jetzt noch schwieriger, weil Rosi ja am Boden lag…. Es war 21 Uhr, und der dicke Thomas kam in die Halle. Er war jetzt in der Nachtschicht, kam aber immer noch eine Stunde früher, um ausgiebig zu rauchen. Auch er ging zu Rosi. Sie bat ihn um Hilfe. Er solle sie kurz heimfahren. Es waren nur drei Kilometer. Aber Thomas weigerte sich. Sie könnte ihm mit ihrem Blut den Wagen versauen… Ich rannte in den Pausenraum und schlug Thomas vor, dass ich selbst Rosi ins Krankenhaus führe, wenn er für mich einspringen würde. Das sagte er tatsächlich: „Meine Schicht fängt erst um 10 an.“… Als Tatjana mich endlich ablöste und ich Rosi fahren wollte, war sie schon weg…. Die Wunde musste genäht werden. Die Wunde, die ich von dem Vorfall bekommen habe, kann mir keiner mehr nähen.“
Frank Hertel ist Akademiker – einer von denen, die, wie er selbst sagt, nicht gebraucht werden und auf dem hiesigen Arbeitsmarkt keine Chance haben. Als seine Frau in Elternzeit gehen will, braucht er dringend Arbeit und schreibt 200 Bewerbungen für „richtige“ Jobs – er wird nirgends eingeladen.
Damit geht es ihm wie vielen Akademikern, wie er festzustellen glaubt, die an irgendeinem Punkt in ihrem Leben etwas falsch gemacht haben. „Ein Studium ist nur eine Chance und kein Garantieschein“. Genau wie diese studierten Taxifahrer und Kellner nahm er einen Billiglöhnerjob an – in einer Brotfabrik. Für 8,10 Euro Stundenlohn, 6 Tage die Woche, Schichtdienst, das brachte 1200 Euro netto im Monat. Nach dem Jahr in der Brotfabrik ging seine Frau wieder arbeiten und Frank Hertel begann aufzuschreiben, wie es ihm an diesem Ort erging. Es liest sich so, als hätte er sich ein Trauma von der Seele schreiben müssen.
Berichte aus dem Inneren ausbeuterischer Arbeitswelten ist man von Günter Wallraff gewöhnt. Doch Wallraff geht an solche Orte um zu recherchieren, aus Studienzwecken und um hinterher darüber zu schreiben. Frank Hertel hat einfach nichts anderes gefunden und er brauchte das Geld. In der Fabrik trifft er auf Menschen und Situationen, die für den Mittelschichtsakademiker unvorstellbar sind. Diese beschreibt Hertel ohne Sarkasmus oder anklagenden Pathos, denn für ein Jahr war diese Welt seine Realität.
Es schuften auch andere Akademiker in der Fabrik, die genau wie er Arbeit leisten, die keinerlei geistiges Niveau erfordert, dafür aber ein großes Maß an Abgestumpftheit. „Boreout“, das Gegenteil eines „Burnout“, nennt man das Phänomen, wenn man stark überqualifiziert und unterfordert mit seiner Arbeit ist und deswegen geistig absackt und krank wird. Neben der körperlichen und sozialen Belastung wird das zu Hertels größtem Problem. In seiner Fabrik arbeiten viele Nationalitäten und die angeblich so arbeitsfaulen Ausländer, die Thilo Sarazin zu sehen glaubt, findet man dort nicht. Eher fehlt es nach Hertels Ansicht dort an Deutschen, die anstatt Hartz IV zu beziehen, sich dort zu Tode schuften, um die Basis des Wohlstands Anderer zu erarbeiten, die nur Dank der Fabrikarbeiter so günstig im Discounter einkaufen können.
Woran es fehlt an diesem Ort ist der Aufstiegswille, der Drang nach Revolution. Nach Hertels Interpretation kommt es nicht zum Aufstand der Arbeiterschaft, weil diese schlicht zu dumm ist. Und selbst die Akademiker unter seinen Kollegen mucken vor lauter Erschöpfung nicht auf. In der Beschreibung der Zustände und der Menschen in der Fabrik, darin liegen die Stärken dieses Buches. Und da sind auch die reflektierenden Abschlusssätze, die Hertel macht, angebracht.
Doch er hätte sich und dem Buch einen Gefallen getan, hätte er nicht versucht, vor allem im zweiten Teil des sehr konfus strukturierten Textes die Zustände in seiner Fabrik auf die gesamte deutsche Gesellschaft zu übertragen. In seiner Reflektion spricht er von Herren und Knechten und von Systemfehlern – in Sätzen, wie man sie von Stammtischen kennt und die dem restlichen Buch schlicht nicht angemessen sind. Hätte er auf die reine, erschreckende Beschreibung vertraut und darauf, zu erzählen, wie er sich innerhalb dieser Fabrik fühlte, das Buch wäre an Durchschlagskraft kaum zu überbieten gewesen. Doch leider verrennt er sich zum Ende immer mehr in politischen Parolen und Weltverbesserungsanklagen.
Da spricht die müde Wut aus ihm, diese ist gut verständlich nach dem, was er erlebt hat. Doch im Buch wäre das Aufzeigen ohne zu erklären und zu polemisieren bewegender gewesen. Dennoch hat Frank Hertel mit „Knochenarbeit. Ein Frontbericht aus der Wohlstandsgesellschaft“ ein wichtiges Buch über eine Seite des wahren Lebens geschrieben, mit dem nicht genug Menschen in Deutschland in Kontakt kommen. Und das sollte gelesen und weiter verbreitet werden, damit wieder mehr Respekt herrscht vor denen, die die Gesellschaft von unten tragen.
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