Vom Überleben des Schönen im Alltag

Konrad Paul Liessmann erkundet in seiner Studie „Das Universum der Dinge“ die Ästhetik der modernen Lebenswelt

Von Willi HuntemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Willi Huntemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann hat nach seiner Essaysammlung „Spähtrupp im Niemandsland“ von 2004 mit diversen kulturphilosophischen Betrachtungen nun wieder einen Band mit Essays vorgelegt. Anders als dort ist das Rahmenthema nun enger gefasst: die Ästhetik des Alltäglichen. Sie und nicht der Obertitel „Das Universum der Dinge“ gibt den eigentlichen roten Faden der Texte ab. Es sind aus verschiedenen Anlässen entstandene, bereits publizierte Gelegenheitsarbeiten, die überarbeitet und zusammengestellt wurden. Wer nun an so etwas wie das „System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen“ von Jean Baudrillard, sein entfremdungskritisches Erstlingswerk von 1968, oder die semiologischen Fallstudien „Mythen des Alltags“ (1957) von Roland Barthes denkt, wird enttäuscht sein. Denn von diesen theoriegesättigten Werken ist Liessmann himmelweit entfernt. Nicht nur, dass lediglich ein Drittel der zwölf Betrachtungen Dinge thematisieren, es fehlt auch so etwas wie ein Kerngedanke, eine Theorie, ein systematischer Zugriff, von dem ein neues Licht auf die Alltagsdinge fiele. Der Verfasser nimmt sich in aller Bescheidenheit vielmehr vor, „einige der Dinge, mit denen wir Tag für Tag zu tun haben, ein wenig besser zu verstehen“.

Auch der Untertitel des Titelaufsatzes „Das Universum der Dinge. Zur Metaphysik der Gebrauchsgegenstände“ ist zu hoch gegriffen. Was das wäre, haben die Essays von Georg Simmel über den Henkel von 1905, Ernst Bloch über den Krug von 1918 (samt Theodor W. Adornos Kommentar dazu) und nicht zuletzt Martin Heideggers große Kant-Vorlesung „Die Frage nach dem Ding“ (1935/36) sowie seine Studie „Das Ding“ (1950) beispielhaft vorgeführt. Darauf nimmt Liessmann an keiner Stelle Bezug. Ihm geht es um etwas anderes: um die Dinge als industrielle Konsumware im Kapitalismus, deren Herkunft sich unseren Blicken entzieht, doch der eigentliche Schlüsselbegriff des Aufsatzes ist der der Arbeit. Der Verfasser argumentiert gegen die These vom Ende der Industriegesellschaft, wenn er feststellt, dass sich das Universum der (industriell hergestellten) Dinge vergrößert habe, die erhoffte Befreiung vom Fluch der Arbeit jedoch ausgeblieben sei. Eine Gesellschaft, in der der Mensch sich und seine Tätigkeiten, Konsum eingeschlossen, nahezu völlig durch Arbeit definiert, krankt am grundlegenden Widerspruch zwischen der schönen ubiquitären Dingwelt und dem Zwang zur Arbeit. Das läuft auf eine humanistische ‚Kapitalismus- bzw. Entfremdungskritik light‘ hinaus, die ohne den Mut zur entsprechenden Begrifflichkeit und ohne eine theoretische Unterfütterung (wie bei Wolfgang Fritz Haugs kürzlich aktualisierter „Warenästhetik“) notgedrungen an der Oberfläche bleibt.

Der folgende Beitrag über die „Gesetze der Alltagsästhetik“ umreißt schon viel eher den Rahmen der Textsammlung, der es um ästhetische Erfahrungen im Alltag wie Kitsch, Musik, Eventkultur, Kunst und Erotik, Schönheitsidolatrie geht; dies – entgegen der eigenen Beteuerung – durchaus mit kulturkritischem Impetus. Im Zentrum der ästhetischen Alltagswahrnehmung steht die Dialektik des Verschwindens wie des Verharrens der Dinge um uns herum, die Begegnung mit und die Umgebung von Dingen zwischen „vorbei“ und „immer noch da“. Mit der alltäglichen Erfahrung des Ästhetischen (gegenüber der ästhetischen Erfahrung des Alltäglichen) kommt die Kunst ins Spiel: sie hat ihren Ort im Alltag, wenn auch depotenziert, und ist nicht mehr „Gegenentwurf zum Alltag“, sondern geht in ihn ein, ohne noch bewusst erfahren zu werden. Das Schöne hat sein Residuum nurmehr „an den Schnittstellen von Ästhetik und Alltag“ und erinnert nur noch als Schimmer an das einstige Glücksversprechen der Kunst. Liessmann hat den emphatischen Kunstanspruch der ästhetischen Moderne, wie ihn exemplarisch Adorno formuliert hat, hinter sich gelassen und auch seinen Frieden mit dem Kitsch gemacht. Die Kitsch-Art ist eine Rache an der asketischen Moderne, indem sie die Grenze zwischen seriöser Kunst und unseriösem Kitsch unterläuft. Der Kitsch wird ironisch zitiert, ist dadurch salonfähig geworden und somit nicht mehr kritisierbar.

Auch andere Beiträge befassen sich mit Grenz- und Übergangsphänomenen des Ästhetischen. Liessmann zeigt dies – mit einer bedenkenswerten Typologie des Redens über Kunst – am Beispiel der Konzeptkunst und des Readymades: ein Gebrauchsding wie eine Schneeschaufel wird durch einen „konstituierenden“ Diskurs zum Kunstobjekt erhoben. Oder wenn er die Affinität von Erotik und Kunst in der Erfahrung des Sich-selbst-Fremdwerdens freilegt, anstatt nur den geläufigen Topos vom Verschwinden der Erotik in der heutigen Welt zu wiederholen. Die heutige Eventkultur verurteilt Liessmann nicht, sondern entdeckt darin Gadamers anti-ästhetizistische Verankerung der Kunst in Lebenserfahrung und traut der Eventkultur in all ihrer Kommerzialisierung und Betriebsamkeit durchaus zu, dass in ihr das Bewusstsein von dem, was Kunst einmal war, wachgehalten wird. Diese Zuversicht nimmt allerdings nicht wunder, hat doch der Text als Vortrag das Brucknerfest in Linz 2007 eingeleitet, sodass Zweifel an der unparteiischen Distanz des Philosophen angebracht wären. In einer musikästhetischen Betrachtung über die „Kunst des Hörens“ bettet Liessmann den aus der „Phänomenologie des Zuhörens“ seines philosophischen Lehrers Günther Anders entlehnten Gedanken eines „lauschenden Hörens“ in den Kontext der Wahrnehmungsbedingungen der modernen Lebenswelt ein: solch ein Hören ist heute schwerer denn je, da es Stille voraussetzt.

In der „Hommage an das Rennrad“ hat der Verfasser die Erfahrungen eines passionierten Rennradfahrers (ist das er selbst?) philosophisch überhöht, so wie andere das Bergsteigen als eine existenzielle Grenzerfahrung zu einer Philosophie stilisiert haben, und näherte sich mit der Umdeutung von Heideggers berühmter „Kehre“ zum Umkehren des Radfahrers auf der Straße fast dem philosophischen Kitsch – würde nicht mit der Ertüchtigung im Fitnessstudio und der treffenden Porträtierung des sich darin abarbeitenden alternden Intellektuellen ein leicht satirischer Gegenakzent gesetzt – der philosophierende Radfahrer Liessmann kriegt noch einmal, möchte man sagen, die Kurve.

Liessmann ist ein philosophischer Allrounder, der zu nahezu jedem Thema etwas sagen kann; das beweist er auch als Impulsgeber der verdienstvollen Kolloquiumsreihe „Philosophicum Lech“ mit ihren alljährlichen Konferenzen zu wechselnden Rahmenthemen und einer jeweiligen Tagungspublikation. Seine Essays verraten schon qua Textgenre eine (spezifisch österreichische?) Skepsis gegenüber systematischen Ansprüchen und Theoriegebäuden und gewinnen ihre Impulse eher aus Beobachtungen der modernen Lebenswelt denn aus theoretischen Ambitionen. (Offensichtlich sind sie zum Teil auch Auftragsarbeiten für nicht gerade philosophische Publikationsorgane.) Das, was einmal die „Arbeit am Begriff“ hieß, ist Liessmanns Sache nicht; er arbeitet ganz undogmatisch mit dem Traditionsbestand, vor allem der philosophischen Ästhetik, und sondiert, was sich damit in der heutigen Lebenswelt noch begreifen lässt – dies im Geist einer humanistischen Kulturkritik, für die auch das Werk von Günther Anders steht. Liessmann ist nicht der Philosoph gewagter Thesen, wirkungsträchtiger Schlagworte und Zuspitzungen, denen man nicht gleich auf der Stelle ohne weiteres folgen möchte und die zum Umdenken zwingen. So sind die Beiträge über das Fußballspiel, die Schönheitsidolatrie unserer Zeit und das Geld als Ding an sich weniger originell; man hat das Gefühl, Ähnliches schon einmal gelesen zu haben. Dafür entschädigt die leichte essayistische Schreibweise, in bester österreichischer Tradition.

Titelbild

Konrad Paul Liessmann: Das Universum der Dinge. Zur Ästhetik des Alltäglichen.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2010.
208 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783552055117

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