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Wiederentdeckt: Michel Georges-Michels Roman „Die von Montparnasse“ über den Maler Amedeo Modigliani

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Untertitel von Michel Georges-Michels Roman „Die von Montparnasse“ klingt schon mal vielversprechend: „Ein Roman über die Pariser Großstadtbohéme“. Das lässt an fiebrige Künstlerleben zwischen Ausschweifung und Schaffensrausch denken. Vom „pulsierenden Leben“ der Bohémiens von Montparnasse kündet denn auch der Klappentext, „inmitten der Bordelle, Cafés und Nachtklubs“.

Einschlägige Szenen finden sich zwar tatsächlich in dieser Romanwiederentdeckung aus dem Jahr 1924. Doch bilden sie eher den grellen Hintergrund, vor dem mit bitterer Ironie und beißendem Zynismus die Schattenseiten einer urbanen Lebensform gezeigt werden, die sonst in unzähligen Büchern und Filmen romantisiert wird. Lange wird dem Leser etwa jene Szene im Gedächtnis bleiben, in der Haricot-Rouge, die junge Geliebte des Malers Modrulleau, aus einem verbeulten Topf die steinharte Farbkruste kratzt, um darin ein paar Bohnen kochen zu können. Als Feuerholz finden die herausgerissenen Zimmerdielen Verwendung.

„Ich will überhaupt nicht wissen, was aus meinen Bildern geworden ist“, lässt der französische Journalist Michel Georges-Michel seine Hauptfigur verkünden. „Tugend und Größe gibt es nur in der Armut. Sobald man ein bisschen reich wird, sieht man nicht mehr klar.“ Bündiger lässt sich die Haltung eines echten Bohemién nicht in Worte fassen. Um sich seine innere „Reinheit“ zu bewahren, der allein er seine Kunst verdankt, verachtet dieser hier so eindrucksvoll geschilderte Künstlertypus den Erfolg – und bezahlt dafür mit einer Existenz im Elend, die es ihm am Ende nicht einmal mehr erlaubt, sich Pinsel und Farbe kaufen zu können. Von Modrulleaus Werken profitiert nur das von ihm verachtete Bürgertum, das seine Schaulust am Anblick all der zerlumpten Gestalten in den Kaffeehäusern von Montparnasse stillt. Und gewiefte Kunsthändler wie Afthalien, der im Roman Maler für einen Hungerlohn für sich arbeiten lässt und seine betuchte Kundschaft mit Intimitäten über seine Angestellten unterhält.

Auch Modrulleau verbringt seine Tage damit, im Keller des Kunsthändlers täglich ein neues Meisterwerk zu produzieren. Im Übrigen träumt er davon, mit seiner Verlobten einen zweiten Raffael zu zeugen, der die kommende Generation vom Stilchaos der Avantgarden erlösen würde. In Georges-Michels Roman, dem Porträt einer ganzen Epoche, erlebt der Kubismus gerade seinen Hype, es ist die Zeit nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. In dem neu gegründeten Schweizer Verlag Walde+Graf ist das seit Jahrzehnten vergessene Werk, das 1958 sogar verfilmt wurde, nun in einer bibliophil gestalteten Neuausgabe erschienen.

Ein großer Romancier war Georges-Michel, der mit bürgerlichem Namen Georges Dreyfus hieß, nicht. Immer wieder lässt er seine Figuren seitenlang über Kunst dozieren, um den Leser dann unvermittelt mit Szenen grotesker Gewalt wieder wachzurütteln. Aber er war ein intimer Kenner jener legendären Kunstszene zwischen Montparnasse und Quartier Latin, die Künstler, Intellektuelle und Literaten aus der ganzen Welt anzog, nicht zuletzt aus dem sittenstrengen Amerika, darunter Ernest Hemingway, Gertrude Stein, Man Ray oder Marcel Duchamp. Das Vorbild für seinen Protagonisten fand der 1985 im biblischen Alter von 102 Jahren verstorbene Autor in Amedeo Modigliani, einer Zentralfigur der Pariser Kunstgemeinde und Freund von Pablo Picasso und Constantin Brancusi.

Im Roman verteidigt der Maler die Bohéme gegen ihre Verächter: „Wer einmal, und sei es nur für einen Tag, den Fuß in unser Café gesetzt hat, der ist ein für alle Mal mit dem infiziert, was wir Maler die ‚Pest von Montparnasse‘ nennen. Das ist nicht die Syphilis oder sonst eine Krankheit – das werden Sie selbst merken –, sondern viel schlimmer: eine nicht bekämpfbare seuchenartige Sehnsucht nach diesem Ort, der im Augenblick einer der interessantesten auf dem Erdball ist.“

Modiglianis Leben war kurz und legendenumwittert – sein künstlerischer Rang wurde erst nach seinem Tuberkulosetod 1920 erkannt. Als „Les Montparnos“, so der Originaltitel des Romans, vier Jahre später erschien, wurde das Buch sogleich als stilisierte Biografie des Malers und überhaupt als Schlüsselroman gelesen. So verbirgt sich hinter der trinkfesten „Kanadierin“ die englische Kunstkritikerin Beatrice Hastings – im Roman eine Femme fatale, die Modrulleau mit Pinsel und Farben in einem Hotelzimmer einsperrt. Auch der polnische Kunsthändler Leopold Zborowski, der Modigliani in seinen letzten Lebensjahren unterstützte, findet sich im Roman wieder.

Dass der Autor in seinem Vorwort aber Wert darauf legt, dass seine Charaktere allen Namensähnlichkeiten zum Trotz „durch und durch Kunstfiguren“ seien, ignorierten viele Leser. Tatsächlich gibt es zwischen Georges-Michels Protagonisten, deren Lebensmittelpunkt das berühmte Künstlercafé „La Rotonde“ ist, und Modiglianis Biografie gravierende Unterschiede: Die Malerin Jeanne Hébuterne, Modiglianis Verlobte, ist im Roman eine kunstbegeisterte Lebensmittelhändlerin. Den Ehrennamen Haricot-Rouge, „rote Bohne“, trägt sie, weil sie mit ihren im Laden geklauten Bohnen ihre Künstlerfreunde immer wieder vor dem Verhungern bewahrt.

Im Roman lernt der Maler Haricot-Rouge erst nach dem Krieg kennen. Der echte Modigliani floh dagegen mit Jeanne Hébuterne 1918 aus Angst vor den Deutschen nach Nizza, wo eine Tochter zur Welt kam. Nicht fiktiv ist dagegen der Sprung der hochschwangeren Haricot-Rouge aus dem Fenster am Ende des Romans, nachdem sie vom Tod des von ihr abgöttisch geliebten Malers erfährt, denn auch Jeanne Hébuterne nahm sich auf diese Weise 22-jährig das Leben.

Titelbild

Michel Georges-Michel: Die von Montparnasse. Ein Roman über die Großstadtboheme.
Übersetzt aus dem Französischen von Marcus Seibert.
Walde + Graf Verlag, Zürich 2010.
232 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783037740026

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