Schatten der Vergangenheit
Michael Ebmeyer beweist mit seinem Familienroman „Landungen“ viel Feingefühl
Von Anabell Schuchhardt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweisePsychische Störungen sind im 21. Jahrhundert längst als offizielle Krankheiten anerkannt. Man ist sich des Leids der Betroffenen bewusst. Man kennt verschiedene Behandlungsmaßnahmen ebenso wie Integrationskonzepte. Besonders aufgrund des letzteren Aspekts wird jedoch deutlich, was sich zum Beispiel im Vergleich zum 19. Jahrhundert nicht geändert hat: Psychische Störungen definieren sich durch ihre Abweichung von der Norm. Damals wie heute versuchen die Erkrankten sowie ihre Angehörigen daher, ihr Leiden vor der Gesellschaft zu verbergen. Niemand geht einfach hinaus und berichtet von psychischen Krankheiten, wie er es vielleicht von einer Erkältung oder einem Beinbruch tun würde.
Frühjahr 1869: Friederike Soltau gilt als merkwürdig. Sie wird von Schatten verfolgt und spricht mit ihnen. Oft wird sie deshalb von Panikattacken geplagt. Ihre Familie weiß sich keinen anderen Rat mehr, als sie mit dem Bruder nach Argentinien zu schicken. Dort soll sie ihn und den ältesten Sohn der Familie in der Landwirtschaft unterstützen, die man in der Ferne entwickelt hat. Weit weg von Zuhause, von Freunden und Bekannten, so hofft man, wird das junge Mädchen wieder zurück zur Normalität finden. Mindestens aber hat man das Problem bei sich vorerst aus dem Weg geräumt. In der Pampa lässt sich ihr Verhalten sicher eher verbergen als in Deutschland, meint man.
Exakt hundert Jahre später sieht sich auch Udo Soltau mit den Schatten seiner Vergangenheit konfrontiert. Er nutzt seine Hochzeitsreise, um in Argentinien die Farm zu verkaufen, auf der seine Familie und er im Zweiten Weltkrieg Schutz fanden. Der Vierzigjährige möchte endlich alle Bande zerreißen, die ihn an den unglücklichen Tod seiner Schwester erinnern. Doch was sich physisch mit einem Vertrag regeln lässt, erweist sich auf anderer Ebene als viel schwieriger. Udo Soltau muss schließlich erkennen: „Ich sehe Gespenster“.
Sein Sohn Marco weiß über zwanzig Jahre später keine Details über Argentinien oder die Leiden seines Vaters. Das Verhältnis zwischen den beiden ist sehr schlecht. So ringt der Student daher täglich mit sich selbst, wenn ihn Stimmen überfallen und ihn Wände zu erdrücken versuchen.
Dem Autor Michael Ebmeyer ist mit „Landungen“ ein Familienroman über mehrere Generationen gelungen, bei dem Geheimnisse und individuelle Sehnsüchte das Bindeglied zwischen den Protagonisten und Zeiten bilden. Ausgesprochen beeindruckend beschreibt er, wie jeder einzelne sich durch sein Leben kämpft und dabei auf sich allein gestellt ist. Das Schlüsselwort, das aus der Einsamkeit herausführt, heißt dabei Liebe: Zu einer Person, zu einem Land und auch zu sich selbst. Erst als alle Familienmitglieder auf eine Person treffen, die sie akzeptiert wie sie sind, lernen die Soltaus sich selbst anzunehmen. Mit diesem entscheidenden Schritt wird dann der Prozess ihrer Heilung – wenn man überhaupt von Krankheit sprechen möchte – in Gang gesetzt.
In Ebmeyers Werk schwingt allerdings noch mehr mit als die bloße Lehre, dass jeder Mensch ein Individuum und einzigartig ist. Durch die Verknüpfung der Generationen spannt er ein mystisches Netz der Zeit. In der Vergangenheit geschehene Dinge spielen selbst in der Gegenwart noch eine Rolle. Verbrechen müssen gerächt, Vergehen aufgedeckt werden.
Ebmeyer ist ein noch recht junger Autor, der 1973 in Bielefeld geboren wurde. Erstaunlich ist es daher, wie er einerseits die Geschichte einer Familie erzählt, andererseits aber das Land Argentinien und dessen Einwanderungsgeschichte zu beschreiben vermag. Das Buch wirkt stimmig. Ebmeyer versteht es, die Spannung zu halten und zwischen den Zeiten zu springen, ohne dass der Leser den Anschluss an die Geschichten der anderen Protagonisten verliert. Gleichzeitig spricht der Schriftsteller eine Sache an, die über den Roman weist und die wohl nie gänzlich erforscht sein wird: Wie entstehen psychische Leiden? Was bedeutet es für die betroffenen Menschen, die oft den Anschluss an das normale Leben verlieren? Vor allem aber: Wie sollte die restliche Gesellschaft damit umgehen?
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