Das Chamäleon Ehre
Winfried Speitkamp untersucht in seiner „Geschichte der Ehre“ den Ehrbegriff im Wandel der Zeit – und was er über unsere Gesellschaft verrät
Von Jutta Ladwig
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Die Ehre ist objektiv, die Meinung anderer von unserem Wert und, subjektiv, unsere Furcht vor dieser Meinung.“ So attackierte Schriftsteller und Philosoph Arthur Schopenhauer 1851 den Ehrenkult des 19. Jahrhunderts. Denn er hatte bereits erkannt, dass die inhaltliche Definition dessen, was unter Ehre verstanden wird, wandelbar und individuell bestimmt ist. Tatsächlich erweist es sich als schwierig, Ehre allgemeingültig zu bestimmen und die Frage, was Ehre eigentlich ist, adäquat zu beantworten. Winfried Speitkamp versucht es dennoch. Mit „Ohrfeige, Duell und Ehrenmord“ begibt sich der Kasseler Historiker auf ein weites Feld unterschiedlicher Definitionen und Aspekte der Ehre, sei es im religiösen Kontext oder als Wertevorstellung, welche Tugend, Würde, Anerkennung und Ruhm gleichermaßen umfasst. Auch in unserem Sprachschatz ist Ehre in vielen Redewendungen vertreten, wie „Besser arm in Ehren als reich im Schaden“ oder „etwas als seine Ehre ansehen“ und „sich die Ehre verschaffen“. Allerdings klingt die Phrase „für jemandes Ehre eintreten“ heutzutage veraltet und die Ehre selbst gilt als überholt, als Relikt aus einer vergangenen, militär- affinen Zeit. Und trotzdem ist in den Medien von Ehrenmorden die Rede.
Der Begriff der Ehre scheint kaum greifbar, da Ehrvorstellungen nicht statisch oder vorgegeben sind. Stattdessen sei sie ein Resultat aus Diskursen und sozialen Praktiken, so Speitkamp. In seiner Geschichte der Ehre untersucht er diesen dynamischen Verhaltenscode von der Antike bis in unsere Gegenwart. Dabei berücksichtigt er das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft: welche Rolle der Einzelne übernimmt und wie sich Gruppenzwang auf die Wertevorstellungen des Individuums auswirkt. Auch spielen politische Ordnung und Herrschaftsformen eine Rolle. So wird in der Öffentlichkeit ein tugendhaftes Verhalten als Ehre angesehen, das honoriert wird. In Ritualen und Zeremoniellem, wie zum Beispiel Pomp und Präsentationen führen Herrschaften ihre Ehre, ihr Ansehen vor. Das gilt bis in die Moderne, denn „wer im Herrschaftssystem wirken will, muss darin Ehre erlangen und vorführen können“.
In einer Geschichte der Ehre muss auch auf bestehende Geschlechterordnungen eingegangen werden. Immer wieder wird versucht, männliche und weibliche Ehre zu definieren und in welcher Beziehung sie zueinander stehen. Oft war in den letzten Jahrhunderten die Tugend oder die Treue der Frau Ausgangspunkt für Duelle, heute für den Ehrenmord. Und wenn nicht um die Frau gekämpft wurde, war sie Auslöser für Konflikte, wie etwa dem Trojanischen Krieg der „Ilias“. Daraus ergibt sich für Speitkamp der Schluss, dass Entehrung oder die Bedrohung der Ehre immer zu Gewalt führt. Es beginnt mit einer Ohrfeige und gipfelt im Duell oder dem Ehrenmord. Deswegen stellt Speitkamp eine kurze Geschichte der Ohrfeige seinem historischen Überblick über Epen, Traditionen und Konstruktionen der Ehre voran.
Die Geschichte verrät uns, wie die Gesellschaft zum Individuum stand. So spielten im Mittelalter und der Neuzeit Heldentum und Stand eine wichtige Rolle für den Ehrbegriff. Im 19. Jahrhundert wurde einer Schmähung oder drohendem Ehrverlust im Duell entgegengewirkt: anstelle des Standesbewusstseins vertrat man seine Klasse, wie es von einem erwartet wurde. Nach der sozialen und nationalen Ehre strebte das Individuum der Nachkriegszeit vermehrt nach Anerkennung und Wohlstand und stand im Wettbewerb mit seinen Mitmenschen. „Ehre war und ist demnach ein Verhaltenskodex, der gesellschaftlich vorgegeben, aber wandelbar ist und jeden einzelnen immer wieder dazu zwingt, Position zu beziehen, Entscheidungen zu treffen“, stellt Speitkamp fest.
Doch was ist in unserer Gegenwart von der Ehre geblieben? Ein veraltetes Ideal, sagen die einen – doch geht es um einen Ehrenmord, ist schnell wieder von ihr die Rede. Das Opfer habe seine Familie entehrt, man habe dies sühnen müssen, um das Gesicht zu wahren, so lautet oft die Begründung der Täter, die größtenteils aus dem türkischen oder arabischen Kulturkreis stammen. Ist es das, was man unter „mediterraner Ehre“ verstehen kann?
Der Kasseler Historiker untersucht, warum und wie in der Geschichte um Ehre gestritten worden ist – und, dass man Ehre immer wieder anders verstanden hat. Er macht deutlich, dass dieses auch Aufschluss über Grundlegendes der menschlichen Kulturen aussagt. Mit Exkursen in die Kultur afrikanischer Stämme oder der Samurai beleuchtet Speitkamp uns fremde Ehrvorstellungen und lässt gar den Rapper Bushido, benannt nach dem Ehrenkodex der Samurai, zum Thema zu Wort kommen. Bezüge zur Literatur stützen Speitkamps Darstellungen, er untersucht die „Ilias“, das „Nibelungenlied“ und „Effi Briest“ nach den dort geltenden Ehrvorstellungen und erklärt, warum es in Erich Kästners Werken so viele Ohrfeigen setzt.
Doch Speitkamp belässt es nicht bei bloßen Darstellungen, sondern setzt sich auch kritisch mit den Konzepten von Ehre auseinander, wie zum Beispiel im Falle des Ehrenmordes. Unvoreingenommen schildert er die Fakten, aber geht weiter der Frage nach, warum dies gerade im türkischen und arabischen Kulturkreis häufig vorkommt. Speitkamp verurteilt nicht, sondern leistet Aufklärung über fremde Kulturen und uns selbst, denn nur wenn wir erkennen, wie sich Ehrvorstellungen im Zuge der Geschichte gewandelt haben, sind wir in der Lage zu einer friedlichen Verhandlung über Ehrkonflikte.
Und so kommt er zu diesem Schluss: „Ehre ist also nicht nur ein weites Feld; es war auch ein langer Weg von der Ehre antiker Helden bis zur Ehre mordender Väter. Ehre ist ein Chamäleon: ständig wechselt sie nicht nur die Farbe und das Aussehen, sondern auch den Inhalt und den Namen. Und doch geht es im Kern um dasselbe. Denn es bleibt als soziale, wenn nicht anthropologische Konstante, dass Menschen nach Ehre streben, dass sie ihr Selbstbild mit dem Außenbild, ihre Selbstachtung mit der Achtung durch andere in Deckung bringen wollen.“
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