Asien-Sichten

Barbara Stempel untersucht in ihrer Dissertation Reisefotos und -texte von Annemarie Schwarzenbachs und Walter Bosshards Asienfahrten

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg stellt im deutschsprachigen Raum eine Hochzeit der Reiseliteratur dar. Die ungeheuer große Nachfrage nach Nachrichten infolge vierjähriger Informationssperre und Zensur, aber auch das Bedürfnis nach Ablenkungen und Fluchtmöglichkeiten aus dem krisengeschüttelten Alltag veranlassen Autoren wie Verlage, mit einer erhöhten Produktion von Reisebüchern darauf zu reagieren. Doch nicht nur diese mittlerweile „klassisch“ gewordene Form der Berichterstattung findet großen Anklang. Sehr viel stärker als bisher – nämlich als die wohl erfolgreichsten Publikationsorgane in der Weimarer Republik – spielen Illustrierte und Magazine eine zentrale Rolle dabei, das Lesebedürfnis der Rezipienten zu befriedigen und zugleich ihren Bildungshorizont zu erweitern. Technische Verbesserungen und Neuerungen erhöhen in diesem Zusammenhang auch die Qualität der Abbildungen, die zunehmend mehr Gewicht erhalten und in der Gestaltung nicht selten mehr Raum einnehmen als die Texte. Die Entstehung und Entwicklung der „Fotoreportage“ dokumentiert diesen medialen Strukturwandel hin zu einer Massenpresse, die in der Lage ist, der neu entstandenen, konsumorientierten Massengesellschaft auf die Dauer die ihr adäquaten Leseprodukte zu liefern.

An dieser Stelle setzt die Dissertation von Barbara Stempel an. In ihrer 2009 als Buchfassung erschienenen Doktorarbeit mit dem Titel „Asien-Sichten“ untersucht sie die Fotoreportagen der beiden Schweizer Journalisten Walter Bosshard (1892-1975) und Annemarie Schwarzenbach (1908-1942). Beide reisten in der Zwischenkriegszeit mit Aufträgen von Zeitungen und Zeitschriften mehrfach in den Nahen, Mittleren und Fernen Osten, um dem deutschsprachigen Publikum von dort zu berichten. Im Mittelpunkt von Stempels Untersuchung steht die Frage, „welches Asienbild anhand von Fotografien der beiden Reisenden in den Buchmedien und in der illustrierten Massenpresse der 1920er und 1930er Jahre übermittelt wurde.“ Daran angeschlossen wird, um die Analyse in einen größeren Kontext zu stellen, eine weitere Frage, nämlich wie „mit Hilfe von Fotografie und Text das Fremde in deutsch/schweizerische Sehgewohnheiten und Wahrnehmungskonventionen eingebunden“ wurde?

Stempel betont zu Beginn die mehrfache Leistung ihrer Arbeit. Zum einen sieht sie ihre Dissertation als einen „wesentlichen Beitrag zur Rekonstruktion der populären deutschen/schweizerischen Bilder- und Vorstellungswelt ,Asien’ während der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen“. Zum anderen trage die Doktorarbeit zum „Verständnis der Funktion und des Stellenwertes der Bilder sowie des Zustandekommens der Reportagen und Bücher“ bei, „die durch vielfältige Verbindungen grundlegend mit verschiedenen Wirkungsmechanismen innerhalb des Medienbetriebes und letztlich der Gesellschaft verknüpft waren“. Außerdem, so die Autorin, schließe die Untersuchung auch eine Forschungslücke in Bezug auf die fotografischen und journalistischen Werke der beiden Schweizer. In einem letzten Punkt wird das Forschungsthema unter dem Terminus der Bildwissenschaft eingeordnet und so auch der interdisziplinäre Ansatz der Studie hervorgehoben.

Bevor die Analyse der Reisefotografien von Walter Bosshard und Annemarie Schwarzenbach erfolgt, stellt Stempel nach der Einleitung die „Kontexte und Methoden“ ihrer Arbeit vor: Sie präsentiert die Rahmenbedingungen ihres Themas und untersucht anschließend „Reisefotografie als Ware“ sowie „Die Wahrnehmung Asiens“. Im ersten Abschnitt wirft sie einen Blick auf die schweizerisch-deutschen Relationen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Anschließend geht sie näher auf „Reisen und Schreiben in Asien“ ein, wobei sie das Wechselverhältnis zwischen beiden Tätigkeiten beleuchtet. Im nächsten Abschnitt liegt der Schwerpunkt auf der Frage nach den Vertriebs- und Publikationsorganen der massenhaft entstehenden Fotoreportagen. „Das Problem der Autorschaft“ ist dabei nicht unerheblich, zeigt Stempel doch auf, dass die Text-Bild-Montagen in einem „Spannungsfeld zwischen drei Instanzen“ entstehen, nämlich zwischen den Fotografen und Fotojournalisten, den Zeitungsredaktionen beziehungsweise den Agenturen und dem Publikum. Dennoch biete, das unterstreicht die Autorin auch, gerade diese neue Form der Berichterstattung den Reportern ein Großmaß an Eigenkreativität und damit die Möglichkeit, mit Texten und Bildern zu experimentieren.

Im dritten und letzten Abschnitt vor der Analyse untersucht Stempel das Bild der östlichen Welt in Deutschland und der Schweiz. Sie spricht von einer stark generalisierenden Verwendung des Begriffs „Orient“ für das Zeitalter der Klassischen Moderne, die ein riesiges geografisches Gebiet, nämlich von Nordafrika bis Japan, umfassen, „also kulturell sehr unterschiedliche Erscheinungen“ vereinen würde. Es seien „meist holzschnittartige und einseitige Bilder, die tief im kulturellen Deutungs- und Zuschreibungsprozess verankert“ seien, die den Blick auf die Fremde als Gegenwelt bestimmten: „Überlieferte Stereotypen galten gleichzeitig als Rechtfertigung für Kolonisierung und Anpassung an die europäische Zivilisation und als Erneuerungs- und Fluchtmöglichkeit aus ihr.“

In diesem Zusammenhang zitiert die Autorin auch Hans Ullrich Syndram und spricht wie er von zwei getrennten Diskursen. So gebe es zum einen ein „ästhetisches“ und zum anderen ein „politisches Orientbild“. Beide Aspekte seien bis ins frühe 20. Jahrhundert „noch weitgehend verbunden“, nach dem Ersten Weltkrieg aber „durchaus getrennt wahrnehmbar, auch wenn sie sich an vielen Stellen berührten oder überlagerten beziehungsweise ineinander übergingen, teilweise auch ideologisch aufgegriffen und eingesetzt wurden.“

So hätte sich ein neues Gesamtbild ergeben, in dem sowohl ältere Vorstellungen als auch aktuelle Ereignisse Eingang gefunden hätten. Hierbei behandelt Stempel auch die Frage nach den „politische[n] und wirtschaftliche[n] Beziehungen in den asiatischen Raum“ und geht schließlich – und damit auch auf das nächste Kapitel verweisend – auf das „bekannte und unbekannte Asien“ ein. Während Vorder- und Mittelasien als Teil des eurozentrischen Weltbildes ausgemacht werden, stellt die Autorin dagegen für Zentralasien fest, dass es bis in die 1930er-Jahre eine noch wenig erforschte beziehungsweise erschlossene Region sei.

Im Mittelpunkt von Barbara Stempels Dissertation stehen indes die Fotografien und Reportagen der zwei von ihr ausgewählten Reisenden. Bosshard und Schwarzenbach, das betont sie zu Beginn ihrer Studie auch zur besseren Einordnung der zwei Schweizer, seien im Bereich des Fotojournalismus im positiven Sinne Dilettanten gewesen, denen der Quereinstieg durch die Neuheit dieser Form der Berichterstattung um ein Mehrfaches erleichtert worden sei. Dankenswerterweise sind ihre von Stempel für „Asien-Sichten“ ausgesuchten Reportagen am Ende der zwei großen Abschnitte über die beiden komplett abgedruckt. Die Abbildungen geben einen guten Eindruck von der Gestaltung der Text-Bild-Montagen in den Zeitungen, Zeitschriften und Illustrierten, die die Fotoberichte der Schweizer abdruckten, aber auch von der in den Reisebüchern der beiden, in denen sie ihre Reportagen nicht selten verarbeiteten. Die Abbildungen zeigen zudem auch die Entwicklungen beziehungsweise Interessenverlagerungen in den literarischen und fotojournalistischen Arbeiten von Schwarzenbach und Bosshard auf.

Im Falle der 1908 geborenen Industriellentochter Annemarie Schwarzenbach, die nach 1933 mit Erika und Klaus Mann das Hitler-Regime bekämpfte, sucht sich Stempel bisher nur wenig untersuchte Bildberichte von ihren vier Reisen in den Vorderen Orient in den Jahren zwischen 1933 und 1940 aus. Diese wurden in der Folgezeit unter anderem in der „Zürcher Illustrierten“ und „Atlantis“ veröffentlicht und fanden in veränderter Form auch Eingang in ihr Reisebuch „Winter in Vorderasien“ (1934). Ähnlich geht Stempel anschließend bei dem 16 Jahre älteren Walter Bosshard vor, von dem sie für ihre Studie ebenfalls zahlreiche, bisher wenig analysierte Text-Bild-Montagen auswählt. Diese stammen aus der Zeit zwischen 1926 und 1936. Bosshard nahm in diesen zehn Jahren an der vom Geografen Erich Trinkler (1896-1931) geleiteten deutschen Forschungsexpedition nach Kaschmir teil (1927/28) und fuhr mehrmals auch allein nach Zentralasien. Seine Texte und Fotos publizierte er in Illustrierten wie der „Berliner Illustrirten Zeitung“ und nutzte sie ebenfalls als Material für Reisebücher wie „Durch Tibet und Turkestan“ (1930).

„Es wird auch für die vorliegende Untersuchung davon ausgegangen, dass in den untersuchten Fotografien und Texten beides enthalten ist: die kulturell bedingte Konstruktion und Abbildung fremder Lebensart, Dokumentation von dem, was war und gleichzeitig von Bild- und Blickkonventionen der eigenen Herkunft.“ Diese von Stempel anfangs aufgestellte These erweist sich in der Folge bei Schwarzenbach und Bosshard als zutreffend. Was die Untersuchung der Texte und Fotos der beiden Journalisten angeht, so wird im Laufe der Lektüre von „Asien-Sichten“ zunehmend deutlich, dass neben der Analyse des Asienbildes und seiner Veränderungen, vor allem die Fragen, wie das Reisen erzählt wird und welche Rolle in diesem Kontext die Texte und Bilder spielen, das Interesse der Autorin auf sich ziehen.

Die Autorin untersucht dabei die Bildberichte weniger als ein eigenes, kreativ gestaltbares Genre, sondern konzentriert sich auf die Inhalte, das heißt die ausführliche Beschreibung und Erklärung der Texte und Fotos. Die medialen Neuheiten, die an den vielen, von ihr abgedruckten Arbeitsproben gut zu beobachten sind, werden daher wenig thematisiert. Dennoch stellt Barbara Stempels Dissertation – und das nicht zuletzt aufgrund der großen Materialfülle, die von ihr untersucht wurde – insgesamt einen wichtigen Beitrag zur neueren Forschung über Bosshard und Schwarzenbach dar. Denn „Asien-Sichten“ deckt mit seinen umfassenden Analysekapiteln zu den beiden Schweizern erstmals in größerer Weise den Bereich der Bildwissenschaft ab – ein Forschungsgebiet, in dem zu den zwei Journalisten bisher erst kleinere, einzelne Aspekte behandelnde Studien vorgelegt wurden.

Titelbild

Barbara Stempel: Asien-Sichten. Reisefotografien von Annemarie Schwarzenbach und Walter Bosshard.
Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften, Weimar 2009.
376 Seiten, 61,50 EUR.
ISBN-13: 9783897396272

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