Ein NS-Paladin der zweiten Reihe

Peter Longerichs These vom frühkindlichen Narzissmus des omnipräsenten Propagandaministers bleibt höchst spekulativ

Von Klaus-Jürgen BremmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Jürgen Bremm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er gehörte nicht zu den Nazis der ersten Stunde, und Deutschlands Niederlage 1918 war für den ehrgeizigen Studenten Joseph Goebbels keineswegs jene traumatisierende Katastrophe, als die er sie später in seiner Propaganda so gut darzustellen wusste. Selbst den bald von der Parteiführung zur Legende stilisierten Marsch zur Münchener Feldherrenhalle hatte er nicht mitgemacht. Während Hitlers Paladine nach dem kläglich gescheiterten Putsch ins Ausland flohen und der „Chef“ selbst eine Festungshaft verbüßen musste, beschäftigte sich der in Heidelberg promovierte Philologe noch mit seinen zahlreichen Liebschaften oder ambitionierten literarischen Projekten. Erst kurz vor Hitlers Entlassung aus Landsberg fand der inzwischen gescheiterte Schriftsteller 1924 den Weg zum Nationalsozialismus und erwies sich dann als ein ergebener, wenn auch nicht immer unkritischer Anhänger seines geliebten „Führers“, dem er schließlich samt seiner Familie 21 Jahre später in den Tod folgte. Vielleicht lag es an mangelndem Stallgeruch, dass Goebbels nach Ansicht von Peter Longerich trotz seiner ungeheuren öffentlichen Präsenz nie wirklich zur ersten Garnitur des Nationalsozialismus aufrückte.

Der in London lehrende Historiker und Himmler-Biograf Longerich hat jetzt den Versuch unternommen, die politische Karriere des fanatischen Antisemiten, der seit seiner frühen Jugend gehbehindert war, aus der Perspektive einer höchst einseitigen Männerfreundschaft zwischen dem Diktator und seinem obersten Propagandisten nachzuzeichnen. Das wechselnde Verhältnis der beiden war seit Goebbels Eheschließung 1931 mit der geschiedenen Magda Quandt sogar in eine pikante Menage á Trois gemündet. Ein Machtwort des Diktators beendete daher auch die leidenschaftliche Liaison seines obersten Filmzensors mit der tschechischen Schauspielerin Lida Baarová, da sie das diskrete triale Arrangement in Gefahr gebracht hatte.

Dass Goebbels und seine Frau wiederum in geradezu rührender Fürsorge glaubten, sich um den einsamen Hitler sorgen zu müssen, war letztlich nur eine der zahllosen Gelegenheiten, bei denen der Minister für Volksaufklärung und Propaganda seinen eigenen Wahrheitsverdrehungen zum Opfer fiel. Tatsächlich war der österreichische Agitator keineswegs der einsame und „unbeweibte“ Führer an der Spitze des Großdeutschen Reiches, sondern unterhielt jahrelang eine sorgfältig vor der Öffentlichkeit abgeschirmte Beziehung zu seiner späteren Frau Eva Braun. Obwohl Hitler sich in der Rolle des langjährigen Hausfreundes des Ehepaares Goebbels gefiel, der seine Familienzugehörigkeit häufig durch unangekündigte längere Besuche oder gar Übernachtungen im mondänen Goebbels’schen Domizil auf Schwanenwerder unterstrich, zog er – wie Longerich immer wieder aufzeigen kann – seinen sklavisch ergebenen Propagandaminister auf der politischen Bühne nur verspätet und oft auch gar nicht ins Vertrauen.

Schlimmer aber noch für ihn war, dass Hitler getreu seinem Prinzip der unklaren Kompetenzabgrenzung Goebbels auch die volle Unterstützung bei vielen seiner Prestige-Projekte versagte. So erhielt er zwar nach der Machtergreifung die scheinbar einflussreiche Position des Ministers für Propaganda und Volksaufklärung, doch seinen Herzenswunsch nach der Rolle als großer Erzieher des Volkes ließ der Diktator unerfüllt. Mit Otto Dietrich als obersten Pressesprecher setzte er seinem enttäuschten Paladin sogar einen entschiedenen Konkurrenten in das zurecht gestutzte Ministerium, das nicht einmal in der strategisch wichtigen Auslandspropaganda die volle Gestaltungsfreiheit besaß.

Der auf großem Fuß lebende Goebbels musste sich auch hier mit den Vertretern des Auswärtigen Amtes auseinandersetzen und war keineswegs immer der strahlende Held, zu dem er sich in seinen Tagebüchern stilisierte. Weder auf dem Gebiet der Filmpolitik noch in der Beeinflussung der Massen konnte Goebbels tatsächlich seine ambitionierten Ziele erreichen, wie Longerich unmissverständlich klarstellt. Selbst als Protagonist des totalen Krieges scheiterte Goebbels am Widerstand seiner konservativen Parteigenossen und der wachsenden Lethargie seines „Führers“, der geprägt von den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges die geforderten drastischen Maßnahmen innerlich ablehnte. Goebbels’ wesentliche propagandistische Leistung reduziert sich somit auf seine Selbstdarstellung als erfolgreicher Einpeitscher, dessen Reden angeblich stets den größten Eindruck bei seinen Zuhörern hervorriefen. Nicht der persönlichen Selbstvergewisserung diente sein voluminöses Tagesbuch, das er über mehr als zwei Dekaden sorgfältig führte, sondern einzig und allein der Darstellung seiner historischen Rolle. Durch und durch Propagandist hinterließ Goebbels, wie Longerich betont, keine historische Quelle, sondern seinen propagandistisches Vermächtnis.

Somit aber ist es methodisch nicht unproblematisch, wenn sein Biograf gerade dieses Meisterwerk der Selbstdarstellung seines Protagonisten als wichtigste und häufigste Quelle zitiert, während andere Zeugnisse oder gar Aktenmaterial eindeutig zu kurz kommen. Seine Biografie verflacht damit phasenweise sogar zu einem überdehnten Kommentar der Goebbels’schen Tagebücher, ohne dass Longerich präzise darlegen kann, worauf er denn seine kritische Distanz zu Hitlers skrupellosen Gefolgsmann stützt. Doch die Einseitigkeit der herangezogenen Befunde ist noch nicht einmal das größte Manko seiner Biografie, deren zentrale These von der frühkindlich geprägten narzisstischen Persönlichkeit des Propagandaministers bloße Spekulation bleiben muss. Wie jede historische Ferndiagnose ist sie kaum zu belegen und auch noch nicht einmal besonders plausibel.

Longerich gelingt es nicht, in seiner Biografie klare Akzente zu setzen. So bleibt unklar, was Goebbels tatsächlich zum radikalen Antisemiten werden ließ und was ihn 1924 dazu veranlasste, seine literarischen Selbstbespiegelungen aufzugeben, um sich der Splitterpartei eines radikalen Sektierers anzuschließen. Anstatt nun seine Narzissmusthese an dem verfügbaren Stoff zu entfalten oder – was vielleicht biografisch ertragreicher gewesen wäre – Goebbels extremen Antisemitismus ins Zentrum seiner Darstellung zu rücken, arbeitet der Verfasser sämtliche Aspekte der Goebbels’schen Biografie gleichförmig entlang der Zeitachse ab, was nicht zuletzt auch der Lesbarkeit seine Textes schadet. Ein großer Wurf ist Longerich damit nicht gelungen.

Titelbild

Peter Longerich: Joseph Goebbels. Biographie.
Siedler Verlag, München 2010.
912 Seiten, 39,99 EUR.
ISBN-13: 9783886808878

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