Zwischen Melancholie und Sehnsucht

Jean-Philippe Toussaint gelingen in seinem Roman „Die Wahrheit über Marie“ ungewöhnlich poetisch verdichtete Schilderungen

Von Gunter IrmlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gunter Irmler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Zeitalter der Globalisierung macht es den Liebenden nicht leicht. Die Menschen dieser Epoche sind heimatlos gewordene Liebende. Sie sehnen sich nach Nähe, aber ihre Liebesbeziehungen zerbrechen. Auch in dem neuesten Roman „Die Wahrheit über Marie“ von Jean-Philippe Toussaint stehen zwei Figuren im Mittelpunkt, die verzweifelt nach der Liebe suchen – Marie und ein namenloser Erzähler. Es ist der Abschluss einer Trilogie: Bereits in seinen Romanen „Sich Lieben“ (2003) und „Fliehen“ (2007) hatte der Autor über die beiden, ihre Trennung und ihr Wieder-zusammen-Finden erzählt. „Die Wahrheit über Marie“ hatte es auf die Shortlist für den in Frankreich sehr begehrten Prix Goncourt geschafft. Auch im neuesten Werk des belgischen Autors liegen beiden Figuren immer wieder mächtige Steine im Weg zum vermeintlichen Glück in der Liebesbeziehung.

Es ist eine glutheiße Sommernacht in Paris: Der Erzähler und die Modeschöpferin und Künstlerin Marie machen zur gleichen Zeit Liebe. Aber nicht miteinander; Marie ist gerade mit einem wohlhabenden Mann, der im Pferdesport tätig ist, zusammen. Sie hat ihn in Japan bei ihrer Vernissage kennengelernt. In dieser Nacht aber erleidet ihr Liebhaber einen Zusammenbruch. Marie hat Zärtlichkeit gesucht; sie findet sich nun alleine in einer verzweifelten Lage wieder. Darin ruft sie den namenlosen Erzähler, ihren früheren Lebensgefährten, herbei. Die beiden hatten sich eigentlich schon getrennt. Jetzt flammt beider Liebe wieder auf.

Toussaints Figuren sind wie verloren vor den Möglichkeiten zur Kommunikation. Da steht Marie plötzlich verzweifelt neben ihrem zusammengebrochenen Liebhaber: „Und da wurde ihr bewusst, dass sie seit Beginn des Abends erst jetzt zum ersten Mal wirklich seinen Körper betrachtete, dass sie kein einziges Mal zuvor in dieser Nacht, auch nicht, als sie sich umarmten, sich für seinen Körper interessiert hatte, ihn kaum berührt, ihn nicht einmal angeschaut, sich immer nur um ihren eigenen Körper gekümmert hatte, um ihre eigene Lust.“ Toussaint, der 1957 geboren wurde und in Brüssel und auf Korsika lebt, seziert unsere Gefühle und legt die verborgenen inneren Handlungen der Liebe bloß: irrationale oder egoistische Motive. Auch wenn wir die Liebe suchen, hat laut Toussaint unser Handeln einen dunklen Grund. Verführerische Gefühle innerhalb einer schrecklichen Realität – das ist alles andere als ein Widerspruch.

Das alles erzählt Toussaint lakonisch und zugleich so schwerelos, dass das Werk eine enorme Sogkraft beim Lesen entfaltet. Ungewöhnlich poetisch verdichtete Schilderungen zwischen Melancholie und Sehnsucht gelingen dem Autor. Mit allen Sinnen zieht es uns in das Geschehen mit. Joachim Unseld hat den Text überzeugend ins Deutsche übertragen.

Toussaints Universum ist eine Dingwelt, in der er mit einer filmischen Zoom-Technik Objekte und Szenen vor unserem Auge sprachlich erstehen lässt. Wie besessen scheint der Autor von den Objekten. Sie schaffen Orientierung in einer Welt, in der die menschlichen Beziehungen vage und unsicher bleiben. Toussaint arbeitet auch als Regisseur und Fotograf: Dabei hat er sich die höchst aufmerksame Sichtweise angeeignet, die er nun auch bei der detaillierten literarischen Schilderung mit Präzision umsetzt.

Toussaint ist aber auch ein Jongleur, der souverän mit den literarischen Formen zwischen Postmoderne und traditioneller Dramaturgie spielt. So wechselt er im zweiten Abschnitt die Erzählperspektive, was nur auf den ersten Blick rätselhaft wirkt. Es ist ein ironisches Spiel mit den Erwartungen des Lesers, wenn er die Liebesgeschichte zunächst einmal im zweiten Teil nicht weiter führt. Eine recht konventionelle Form dagegen finden wir im dritten und letzten Abschnitt für die Beschreibung der erneut beginnenden Liebe des Erzählers zu Marie vor. Immer aber begegnen wir langen Sätzen und einem atemlosen Rhythmus, die eine besondere Aufmerksamkeit beim Lesen fordern. Dabei blitzt immer wieder ein hintergründiger Humor auf.

Titelbild

Jean Philippe Toussaint: Die Wahrheit über Marie. Roman.
Übersetzt aus dem Französichen von Joachim Unseld.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2010.
190 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783627001674

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