Bernhard 2.0

Zur innerliterarischen Rezeption von Thomas Bernhards Werk

Von Uwe BetzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Uwe Betz

Thomas Bernhard hat schon zu seinen Lebzeiten viele Gegner, Sympathisanten, Nachahmer, Adaptierer und Parodisten auf den Plan gerufen, was eine einzigartige Sammlung von mehr als 70 Bernhard-Nachahmungen und -Parodien beweist, die Jens Dittmar in „Der Bernhardiner. Ein wilder Hund. Tomaten, Satiren und Parodien über Thomas Bernhard“ (Wien 1990) zusammengestellt hat. Der Nachahmungstrieb steigerte sich seit seinem Tod 1989 in dem Maße, dass der Wiener Germanist Wendelin Schmidt-Dengler forderte: Plagiatoren, die „den Kotau vor Thomas Bernhard auf penetrante Weise überziehen, sollten dazu angehalten werden, einen Teil ihrer Tantiemen den Rechtsnachfolgern ihres Vorbildes zukommen zu lassen.“ („Klausen. Eine Verunsicherung“, Literaturen 6/2003).

Inzwischen hat sich diese Tendenz abgemildert. 2011, zum 80. Geburtstag Bernhards, 22 Jahre nach seinem Tod, dürften die nachgeborenen Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus verschiedenen Gründen mehr Distanz gegenüber dem österreichischen Tiradenschmied gewonnen haben: Beispielsweise sind die alten Formen der Österreichkritik aus der Mode gekommen. Und das Subjekt, das sich grundsätzlich im Widerspruch zu Gesellschaft und vorherrschenden Diskursen definierte, ist nicht mehr das der zeitgenössischen Literatur. Es lässt sich inzwischen wohl eher gemäßigt von einem dauernden Update des innerliterarischen Dialogs mit Bernhard sprechen, der weder etwas mit einem Kotau noch mit direkter Parodie zu tun hat, sondern durchaus autonome Ergebnisse und neue literarische Qualitäten zeitigt. Die intertextuellen und biographischen Bezugnahmen sind auf einem Bernhard 2.0-Niveau angekommen, das sich wie das Web von seiner 1.0-Version durch Verdichtung und Potenzierung der interaktiven, kommunikativen und dialogischen Prozesse unterscheidet.

Dennoch hat die innerliterarische Rezeption Bernhards in der deutschsprachigen Literatur eine besondere Dimension, weil ihn die Auseinandersetzung mit der eigenen Stimme zu einem Autor für Autoren macht. Seine existentielle Suche nach der eigenen Kontur und Sprache im Frühwerk und dem übertreibungskünstlerischen Spiel mit dieser Suche im späteren Werk könnte wie ein Handbuch über die Problematik der Selbstfindung als Autor und seiner öffentlichen Inszenierung gelesen werden. Bernhards Bücher erzwingen durch ihre monologisch-provokative und affektive Sprachform, durch die fast rituelle Modulation von Reizthemen, ihre radikale Subjekt-Reflexion und -Inszenierung sowie durch ihre reduktiven Erzähltechniken und Aussagestrukturen die aktive Beteiligung des Lesers. In dieser Form liegt meines Erachtens die Insinuationskraft des Bernhardschen Werkes vor allem bezüglich professioneller Interpreten und nachschreibender Autoren begründet. Einen Anknüpfungspunkt stellen mit Sicherheit auch seine Theatralik und ihr in sich gespaltenes Subjekt dar, der sich die vor allem die Popliteratur angenommen hat.

Schriftsteller über Thomas Bernhard

Während des Autorengesprächs zum Symposion „Thomas Bernhard und die Jungen“ im März 2006 in Frankfurt am Main äußerten sich Suhrkamp-Autoren zum Einfluss Bernhards auf das eigene Schreiben. Dieses Gespräch gelangt hier in Auszügen zur Darstellung, weil jede Position für einen der Aspekte geltend gemacht werden kann, die bisher die Rezeption des österreichischen Erzählmäanderproduzenten kennzeichneten und die ich dann anschließend ausführen möchte.

Josef Winkler ließ keinen Zweifel aufkommen: Thomas Bernhard sei einer der ganz Großen, seine Texte, vor allem die frühen, Weltliteratur hoch zehn. Für ihn, Winkler, hätte es eine ganz besondere Bedeutung gehabt, als er das erste Mal Bernhard, vor allem den frühen, bei dem es auf Leben und Tod ging, gelesen habe. Bernhard habe ihm aus seinen metaphorischen Bildlabyrinthen herausgeholfen, durch dieses Erzählen, Satz für Satz, einfach nur Sprache, eine unverwechselbare zugegebenermaßen, und jetzt habe er den Faden verloren. Thomas Meineke sprang in die Presche und kam auf den Soundtrack zu sprechen, der für ihn, wie er schon gesagt hätte, das Werk Thomas Bernhards sei, klar, keine Rockmusik, aber doch eindeutig klassische Musik, Mozart oder so etwas, eine Suite, die ihn sehr beeinflusst habe am Anfang, jetzt sei er allerdings darüber hinweg, es bliebe die Einsicht, dass man keine vollkommen geniale Sprache aushecken müsse, sondern dass man sich auch mit einfachen Mitteln in die Weltliteratur hineinschreiben könne, jeder müsse dazu nur seinen eigenen Ton finden. Ja, und dieser Ton sei es auch gewesen, der auf sie eine ganz besondere erotische Ausstrahlung gehabt hätte, so Alexa Hennig von Lange, die sich immer zu jungen Männern hingezogen fühlte, die gesprochen hätten wie Thomas Bernhard. Einer dieser Bernhardtöner habe sie zum Abendessen eingeladen und nach erheblichem Wodkagenuss damit begonnen, ihr „Auslöschung“ vorzulesen. Sie habe auf seinem Bett gelegen und urplötzlich, nachdem sie mehrere Male das Wort „Wolfsegg“ vernommen hatte, loslachen müssen, was ihr der Galan letztlich äußerst übel genommen habe, da man bei Bernhard niemals lachen dürfe. Alexander Schimmelbusch, dessen Roman „Im Sinkflug“ nach Meinung des Feuilletons an Bernhard erinnere, stellte klar, dass man sich an Bernhard nicht versuchen dürfe. Er sei sich darüber hinaus sicher, dass jeder Autor, wenn er Bernhard imitiere oder parodiere, dies immer beabsichtige, da Ton und Baukastensystem Bernhards so bekannt seien, dass man sie sofort heraushören könne, so müsse man also um jeden Preis eine Ähnlichkeit zu vermeiden suchen.

Winkler hebt mit seinem Schreiben auf Leben und Tod die Intensität und Direktheit des Bernhardschen Monologs ab, der von einer Mündlichkeit geprägt ist, die viele Nachahmer auf den Plan rief. Ebenso geht es ihm um das Subjekt dieser Rede, das sich im Widerspruch gegen Gesellschaft und Diskurse bestimmt und gleichsam ausgegrenzt oder an den Rand gedrängt sieht.

In den Aussagen Meinekes spiegelt sich die andere Seite des Bernhardtons: der zur klassischen Musik gewordene, bereits tradierte und somit leicht eingängige Stil insbesondere des Spätwerks, der zu einem Markenzeichen im Literaturbetrieb geworden ist und von dem sich junge Autoren möglicherweise ein Entree in den Buchmarkt versprachen.

Bei Hennig von Lange ist die „Verpoppung“ auf ihrem Höhepunkt angelangt: die Theatralik eines Rezeptionsmusters, das nur noch in seinen sozialen Auswirkungen beschrieben wird und zu unterschiedlichen Reaktionen provoziert: Einerseits reizt es zum Lachen, andererseits zur Identifikation, was für Meinungsverschiedenheiten mit der „Generation Winkler“ sorgen dürfte, dem Bernhards Spätwerk als Überhandnahme „koketter Leerläufer“ erscheint.

Schimmelbuschs Position transportiert die Zweigespaltenheit der Rezeption des Bernhardschen Werks zwischen Parodie und Schreiben auf Leben und Tod, das von keiner Nachahmung, Stilisierung oder Parodie erfasst werden kann. Identifikation und Abgrenzung mit bzw. gegenüber dem Vorbild geschieht in Schimmelbuschs Einschätzung quasi auf höherer Ebene. Gerade wenn es eine innere Übereinstimmung geben sollte, verbieten sich Anleihen im Baukastensystem Bernhards, weil die Lesart inzwischen in jedem Fall auf eine parodistische hinauslaufen würde.

Mündlichkeit und Monolog

Eugenio Bernardi schreibt in seinem Aufsatz „Bernhards Stimme“ (In: Bernhard-Tage Ohlsdorf, 1994): „Bernhard ist vor allem eine Stimme.“ Seine Texte bestünden aus den „Hals-Vibrationen“ seiner Helden. Dem kann man nur zustimmen: Bernhards gesamte literarische Produktion besitzt eine Disposition zur Rede. Die unverwechselbare Mündlichkeit des Worts macht seine Texte an praktisch jedem Punkt markant, unmittelbar, eindringlich, bewegend, bedrängend und authentisch. Die von der Mündlichkeit getragene Intensität und Direktheit sind schließlich für das emotionale Wirkungspotenzial von Bernhards Texten verantwortlich. Sieht man, dass sich die Authentizität der Texte vor allem aus ihrer Mündlichkeit speist, wird auch klar, warum sie sich in inhaltliche Widersprüche verwickeln können, ohne an Glaubwürdigkeit zu verlieren.

Dieser Mündlichkeit sind vor allem Autoren zugeneigt, die auch für das Theater schreiben, und viele Frauen, ohne einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit formulieren zu wollen. Als Beispiele zu nennen wären Yasmina Reza, Birgit Vanderbeke, Lilian Faschinger oder Margit Schreiner. Die letztgenannte österreichische Autorin zeigte, dass Bernhards Männer nicht dem landläufigen Männerbild entsprächen und durch und durch alogisch und gefühlsbetont argumentierten, was sich in der Struktur ihrer Selbstgespräche unmittelbar niederschlage („Schreibt Bernhard Frauenliteratur?“ In: Bernhardtage Ohlsdorf 1996). Dieses sich „Hineinsteigern“, das man gemeinhin Frauen zuschreibe, erzeuge dann die Mäandersätze, das dauernde Sich-nicht-entscheiden-können im Einserseits-andererseits usf. Deshalb also wäre die weibliche und emotionale Logik den Texten Bernhards so gewogen, egal, wie männlich die angeschlagenen Themen auch gerade sein mögen. Das mäandernde Selbstgespräch, wie es Margit Schreiner beschreibt, ist bei Bernhard wie auch in ihrem eigenen Erzählwerk also weniger ein innerer Monolog, der um Selbstexploration bemüht ist, als der literarische Versuch, einen Dialog in monologischer Sprechweise aufzunehmen.

Auch die französische Dramatikerin Yasmina Reza rekonstruiert den Monolog eines greisen Vaters, der seinem Sohn die Leviten lesen will, wohl wissend, dass er sein Ziel, also den in der „Freizeit versauernden“ („Eine Verzweiflung“, Berlin 2003) Nachkommen, niemals damit erreichen wird. Die Presse konfrontierte Reza sofort mit dem Urteil, ihr erster Roman „Eine Verzweiflung“ würde an „Verstörung“ von Thomas Bernhard erinnern. In einem Interview (Zeit 21/2001) darauf angesprochen, antwortete Reza: „Thomas Bernhard ist ein Schriftsteller, den ich sehr bewundere […]. Und sicher gibt es Parallelen. Das Obsessive des Stils beispielsweise, die vielen Wiederholungen. Allerdings glaube ich, daß mein Roman dem seinen durch die deutsche Übersetzung ähnlicher wird, als er es eigentlich ist.“ Aber Rezas Roman weist auch neben den stilistischen Verstärkungen, die der Übersetzung geschuldet sind, Ähnlichkeiten zu denen Bernhards auf: Der Monolog des Vaters ist ein Selbstgespräch, das zwischen Selbstentblößung und Selbstinszenierung schwingt, zwischen Anklage und dem Ringen um Verständnis, sowohl des anderen als auch beim anderen. Getaktet durch Leitmotive wechseln sich Anekdoten mit philosophischen Passagen ab.

Sprechgestus und Grundkonstellation erinnern also tatsächlich an Bernhards „Verstörung“: Wie Fürst Saurau beginnt der Vater einen Dialog mit einem abwesenden Sohn. Wie Saurau scheint er zu wissen, dass, wir uns „in einem Zeitalter der Selbstgespräche“ („Verstörung“) befinden und dass die „Selbstgesprächskunst die grauenhafteste Diffamierungskunst“ darstellt. Dazu der Fürst: „Wir, mein Sohn und ich, waren immer unfähig gewesen, ein Gespräch miteinander zu führen. […] Ich habe ihn, denke ich, zu meinem Vernichter erzogen.“ („Verstörung“) Diese Vernichtung wird bei Bernhard in späteren Erzählwerken durch die Abschenkung des Familienbesitzes symbolisiert, die Saurau bereits vorausahnt. Bei Reza geschieht die Auslöschung durch den Nachkommen mit derselben vorweggenommenen Unausweichlichkeit: „Ich denke, eines Tages werde ich nicht mehr den Unbesiegbaren spielen können, er wird mich ständig kriegen.“

Ein Thomas Bernhard vergleichbares Erzählschema hat Birgit Vanderbeke in „Das Muschelessen“ von 1997 (Frankfurt/Main 2002) gewählt, weshalb diesem Text oft nachgesagt wurde, ein Bernhard-Derivat zu sein. Die Erzählung wird von einer Tochter vorgetragen, deren indirekte Wiedergabe fremder und eigener Rede einen zunächst naiven, fast kindlichen Eindruck erzeugt. Das Muschelessen der Familie bleibt dabei stets Ausgangspunkt für die Erinnerungsschleifen, in der die Tochter ihre Gedanken um ihre Familie und vor allem ihren Vater kreisen lässt. Die Worte, Geschichten und Regeln des Vaters dominieren ihr Sprechen und ihre Ansichten. Doch es wird im Verlauf der Erzählung immer klarer, dass die Rede der Tochter gebrochen ist. Sie wendet sich schon in der Zitierung und dann immer offensichtlicher gegen den Vater, der dem Muschelessen unentschuldigt fernbleibt und damit eine längst überfällige geistige Revolte in der Familie auslöst. Die Übernahme von fremder Rede, die sich durch Überanstrengung selbst ironisiert, kennt man gut von Bernhard. Doch während bei ihm die fast ausnahmslos männlichen Protagonisten Gefangene ihrer selbst bleiben, die sich immer tiefer in die ererbten Widersprüche verstricken, und die ich-schwachen jungen Erzähler, beispielsweise in „Frost“, sich nicht von den Einflüsterungen lösen können, emanzipiert sich die Tochter bei Vanderbeke gegenüber dem Patriarchen. Diese Machtverhältnisse werden – wie auch von Bernhard bekannt – im Bild der Kunst und des Kunstgebrauchs reflektiert, wobei sofort zu erkennen ist, dass auch die von Birgit Vanderbeke aufgelegte Platte eine sehr vertraute Melodie spielt: „Verdi ist doch das einzige, was man hören kann, hat mein Vater zum Schluß immer befriedigt gesagt, während meine Mutter alles getan hat, dem abscheulichen Gefangenenchor zu entgehen, unter diesem Gefangenenchor hat meine Mutter viele Jahre gelitten, überhaupt unter Verdi, und ich habe besonders gelitten, wie mein Vater ihn mitgepfiffen hat, weil wir nicht aus dem Wohnzimmer gehen durften, während die Platte lief, […].“

Asymmetrisches Subjekt

Bei aller Egozentrik und Abgeschiedenheit des Monologs, den viele von Bernhards Protagonisten unausgesprochen mit ins Grab nehmen, richten diese sich stets wie Redner an der Öffentlichkeit aus. Wie es Bernhard in „Die Ursache“ mit einem Begriff aus Ludwig Wittgensteins „Tractatus logico-philosophicus“ beschreibt, sehen sich seine Textsubjekte stets in „Asymmetrie“ („Die Ursache“) zu den sie umgebenden Verhältnissen. Das heißt, über den Begriff der Asymmetrie sind Ich und räumliche wie sprachliche Umgebung zwar untrennbar, aber im Widerspruch miteinander verbunden. Das mag, wie in „Die Ursache“ beschrieben, zuerst leidvoll erfahren werden, dann aber wird die Asymmetrie zur maßgeblichen Konstituente der Persönlichkeit.

So sind die Helden Bernhards meist Randständige, Solipsisten, die aber alle um die Bedeutung der „Vortragskunst“ („Am Ortler“) wissen und in der Lage sind, wortgewaltig als Anwälte der Wahrheit aufzutreten. Ihre Selbstinszenierung besteht vorwiegend in der Dekuvrierung des Weltschauspiels, von dem sie sich absetzen. Kennzeichnend sind in diesem Zusammenhang auch der Hang zur Manifestierung des Gesagten durch Wiederholung und das überanstrengte Wahrheitsbeteuerungsvokabular. So ermächtigen sie sich selbst und berauschen sich sprachlich an diesem Aufstieg. Erinnern sie sich aber daran, wie sie durch die Welt in Frage gestellt wurden, fallen sie in tiefe Depression. Dieses Oszillieren in der Asymmetrie ist ein der Bernhardschen Prosa eigener Erkenntnisprozess, der im Verlauf des Werks zunehmend besser ästhetisch verpackt wird. Und nicht nur das: Immer stärker entwickelt sich die Fähigkeit zur Selbstironisierung. Bernhards Monologisierer geben ihren Subjektivismus immer mehr der Lächerlichkeit preis. Der Autor selbst avanciert parallel zum Übertreibungskünstler („Auslöschung“).

Norbert Gstrein hat einen dieser Bernhardschen Asymmetrie entsprechenden Text geschrieben, der von Selbstbehauptung formiert wird und beim Versuch, genau zu treffen, ins Komische kippt und sein Subjekt entlarvt. „Selbstportrait mit einer Toten“ (Frankfurt/Main 2003) ist von einem manischen Pleonasmus und von hoher Erregbarkeit gekennzeichnet, ohne jedoch – bei aller Affektivität – auch nur einen Satz lang die Öffentlichkeit und die ihr adäquate Rhetorik zu vergessen. Gestreins Text kann als Reaktion auf die Rezeption des vorausgehenden Romans „Die englischen Jahre“ betrachtet werden kann. Die so betitulierte poetologische Nachschrift reflektiert zum Teil den Versuch, mit der Exilthematik in „Die englischen Jahre“ der üblichen Heimat-Kritik den Rücken zu kehren, was das Feuilleton zum Teil nicht ganz nachvollziehen konnte. In den Erklärungen Gstreins, wie er auf sein neues Thema kam, findet sich dann aber auch wieder die oben beschriebene Asymmetrie-Struktur: „Das Exil sei in gewisser Weise immer schon mein Thema gewesen, weil auch die Figuren meiner früheren Bücher, sich am ehesten durch ihre Nichtzugehörigkeit definieren ließen, und Nichtzugehörigkeit, ins äußerste Extrem getrieben, sei nichts anderes als Exil.“

Diese Themenverlagerung zeigt aber auch die Abkehr der österreichischen Literatur von der „Bernhardlinie“, die stets darum bemüht war, die Missstände und Nichtzugehörigkeit im eigenen Land aufzuarbeiten. Franz Schuh stellte hierzu schon 2001 in der Zeit (43/2001) fest, „dass ein nicht unwesentlicher Teil der österreichischen Intelligenz mit den alten, eingebürgerten Formen der Österreich-Kritik gebrochen hat. Das war notwendig, weil die alte Österreich-Kritik in einem billigen Ritual erstarrte.“

Zurück zum „Selbstportrait mit einer Toten“: Den Vordergrund bildet die fünftägige Auseinandersetzung eines Paares: er Schriftsteller, sie Ärztin. Vom ersten Satz an übernimmt sie die Rolle der Berichterstatterin, während er ebenso monomanisch wie monologisch um sich selbst kreist. Ihre Versuche, ihm davon zu erzählen, dass sich eine ihrer Patientinnen umgebracht hat, scheitern; denn er selbst kommt nicht darüber hinweg, bei einem Literaturwettbewerb durchgefallen zu sein. So besteht der Text dann auch vorwiegend aus den endlosen Monologen des durch Misserfolg in seiner Künstlerehre gekränkten Schriftstellers. Seine Rede ist voll von Wiederholungen und Schimpftiraden auf die Literaturszene, die als Schmierentheater entlarvt wird. Die Nähe dieser Einlassungen zu Thomas Bernhard ist beabsichtigt. Fast wage ich zu sagen, er bzw. seine Figuren und Aussageweisen sind Teil des Rollenspiels, das Gstrein inszenierte, um zu zeigen, wie hohl und verbraucht sich die literarischen Erregungen inzwischen anhören und wie viel Narzissmus und Rücksichtslosigkeit sich hinter ihnen verbergen mögen.

Der neu belebende Rollentrick Gstreins besteht nun darin, dass er sich selbst nicht nur als einen durchgefallenen Schriftsteller, der im Bernhard-Ton lamentiert, darstellt. Sondern er fügt Bernhards Monologen die Perspektive der schikanierten und sprachlosen Zuhörer hinzu und schreibt aus der Sicht einer Frau, die es mit einem „Thomas-Bernhard-Verschnitt“ aushalten muss, der rücksichtslos seinen Monolog über sie ergießt. Gstrein gibt ihr Text und füllt damit die bei Bernhard angelegten Leerstellen mit relativierenden Repliken und Dialogstandpunkten. Das Ende erinnert dann etwas an die Erzählung „Beton“, in der der kranke Rudolph mit seiner Schwester aus seinem Schreibkerker nach Mallorca aufbricht. Auch bei Gstrein kommt der rettende Impuls von einer Frau und wird vermutlich in den sonnigen Süden führen: „Als er sich wieder beruhigte, richtete ich meine Blicke auf das Schild über dem Eingang des Restaurants, und es war wie eine Verheißung in der Nacht, die Leuchtschrift Italia, verschwommen im Dunst, im Gestrichel des schräg einfallenden Regens.“

Welttheater

Der Bernhard’sche Monolog kann aber auch als eine Art Selbstfeier verstanden werden, die das Textsubjekt zelebriert. Sie gelingt vor allem, wenn das Ich Zuschauer des Weltschauspiels ist. Und das offenbarte sich für Thomas Bernhard, wie er Christa Fleischmann auf Mallorca verriet, in den Zeitungen, die er mit einer Art Hassliebe täglich verschlang. Zu Zeitungen und Zeitschriften hatte Bernhard wahrscheinlich schon durch seine Gerichtsberichterstattertätigkeit beim Demokratischen Volksblatt ein besonderes Verhältnis. Tiraden auf die durch die Zeitungen kolportierte Lüge, zum Beispiel in „Auslöschung“, sind fast in jedem Text zu finden. Seine Stoffe holte sich Bernhard teilweise aus Artikeln und Berichten. Journalistische Profession und Zeitungslektüre färbten auf seinen Prosastil ab, was einen Ton von ironisierter Sachlichkeit ergibt. Bestes Beispiel hierfür ist „Der Stimmenimitator“, in dem er quasi Zeitungsmeldungen literarisch überhöhte. „Die Zeitungen lesen wie Märchen“ („Verstörung“) war schon die Überlebensdevise von Fürst Saurau aus „Verstörung“. Mit dieser Orientierung an pragmatischen Textformen und der durch sie erfassten Wirklichkeit gelingt es Bernhard, die Grenzen von Fiktion und Exposition, von Literatur und gesellschaftlichen Leben wenn nicht aufzuheben, so doch entschieden durchlässiger zu gestalten.

Benjamin von Stuckrad-Barre denkt die Öffentlichkeit wie Thomas Bernhard als medienvermittelte Inszenierung, das beweist sein Buch „Deutsches Theater“, über das die F.A.Z. schrieb: „Der Fotoroman einer Gesellschaft, die nur in der Öffentlichkeit und im Rollenspiel zu sich selbst zu kommen vermag.“ Und so findet sich bereits auf den ersten Seiten dieses literarisch-journalistischen Sammelgefäßes ein Motto zum Welttheater aus Bernhards autobiographischem Roman „Der Atem“: „Ganz natürlich hatte ich hier den Eindruck von Marionetten haben müssen, nicht von Menschen, und gedacht, daß alle Menschen eines Tages zu Marionetten werden müssen und auf den Mist geworfen und eingescharrt oder verbrannt werden, ihre Existenz mag davor wo und wann und wie lang auch immer auf diesem Marionettentheater, das die Welt ist, verlaufen sein.“ („Der Atem“)

In „Deutsches Theater“ sind vorwiegend reportageähnliche Texte versammelt, die der Ex-Harald-Schmidt-Texter Stuckrad-Barre zuvor in diversen Zeitungen veröffentlicht hatte. Auch der erste Beitrag ist eine Mischung aus Interview und dramatischem Machwerk mit dem Titel „Claus Peymann kauft sich keine Hose, geht aber mit essen“. Mit dieser Nachschrift des Bernhardschen Dramoletts „Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen“ trieb Stuckrad-Barre die komische Bernhardrezeption auf ihren breitenwirksamen Höhepunkt: Sein Sketch wurde 2001 in Berlin unmittelbar nach dem Bernhardschen Original uraufgeführt und hatte großen Erfolg bei den Zuschauern. Showmaster Harald Schmidt trat als Peymann auf. Statt Bernhard spielt sich „Stuckrad“ in der Persiflage selbst. In Original und Nachschrift ist also der Tatbestand der Selbstinszenierung gegeben, obwohl Stuckrad nicht wie Bernhard als Ratgeber, sondern eher als Interviewer auftritt und wesentlich weniger Text hat.

In beiden Stücken geht es darum, den „echten Peymann“ zu zeigen: Einem Theatermann, dem berufsbedingt um Kostüm und Kulisse zu tun ist, bis in die Umkleidekabine zu folgen, hat natürlich etwas Dekuvrierendes und Umkehrendes, insbesondere wenn dessen Bekleidungskonventionen alias Inszenierungsstrategien bis auf die Unterwäsche aufgedeckt werden. Peymann distanziert sich von dem im Original inszenierten Gleichklang mit Bernhard, reagiert auf den vorgängigen Text mit einer versteckten Replik und parodiert sich quasi selbst. Peymann entblößt sich, weil er zugibt, Bernhard hätte sein Weltverbesserungsgerede immer für absolut lächerlich gehalten. Im Unterschied zu Bernhards Interpretation der Kleidung als Schutz wird deutlich, dass für einen Theatermann auch die Entblößung eine Inszenierungsstrategie darstellt, weshalb sich Peymann auch gerne betont offen und „muskelspielend“ im T-Shirt der Öffentlichkeit präsentierte.

Stuckrad-Barre treibt also Bernhards Spiel mit real existierenden Personen zwischen Fiktion und Realität, das besonders in den Dramoletten, in den autobiographischen Romanen und im „Stimmenimitator“ zu Tage tritt, konsequent weiter. Er verbindet es in „Deutsches Theater“ mit ähnlichen Intentionen und macht vor prekären Sachlagen nicht halt. So schildert der Autor in einem weiteren Text, wie eine Pressekonferenz in der Bundesanstalt für Arbeit nach festem Ritual inszeniert wird. Über der im kämpferischen Ton gehaltenen Bekanntgabe der Arbeitslosenzahlen könne fast vergessen werden, so der Eindruck Stuckrad-Barres, dass sogar schon 0,5 Millionen Arbeitslose ein Skandal wären, worauf zum letzten Mal ernsthaft Christoph Schlingensief hingewiesen hätte. Zitat: „Und ausgerechnet da dachten alle, es wäre Theater.“

Staatsschelte und Anti-Heimat-Roman

Eine spezifisch österreichische Gattung lebt von der Freude an der Dekuvrierung, die mit satirischen Mitteln in Form der Erregung eines empörten Subjekts vorgetragen wird. Die Staatsschelte – und alles, was man mit ihr im weitesten Sinne verbinden kann – wurde von Thomas Bernhard nachhaltig beeinflusst. Seine Tiraden gegen Staat, Kultur und Tradition haben ihn wegen ihres hohen Skandalwerts auch über die Literaturszene hinaus international bekannt gemacht. Sie verstricken sich dabei nicht in Details, sondern sind so polemisch, dass manche seiner Textpassagen schon fast in die Nähe des Kabaretts gerückt werden müssen. Ihr Primat der „starken“ Formulierung erzielt beim Publikum die Wirkung, die ein sich stets an gegebenen Sachverhalten vergewisserndes Schreiben niemals zu geben vermag. Ausgerechnet der Kabarettist Werner Schneyder hat in diesem Zusammenhang mit einer überdenkenswerten, wenn auch überzogenen und Voraussetzungen von Bernhards Schreiben vernachlässigenden Kritik Aufsehen erregt: Bernhard hätte durch seine umfassenden Disqualifizierungen in einer totalisierenden Sprache den Faschismus im Denken salonfähig gemacht und damit Haider den Weg geebnet.

Eine Prosa, die von Tiraden und Schimpfkanonaden gekennzeichnet ist, wird im Ausland zwar längst als bernhardesk rezipiert, aber in Österreich ist diese besondere Art des unversöhnlichen Räsonierens nichts Außergewöhnliches. Gerhard Ruiss, der Geschäftsführer der IG Autoren, wies in einem Interview, das ich 2002 mit ihm führte, darauf hin, dass es sich um eine „typisch österreichische Monologform handele, die auf unterschiedlicher Höhe des Sprachvermögens überall anzutreffen ist.“ Sie sei Zeichen einer ohnmächtigen Wut auf herrschende Zustände und wechsle ständig zwischen Verhöhnungslust und Depression. Aus diesem Grund könnte man hier eine ganze Reihe von Autoren unter Verdacht stellen, sie würden Bernhard imitieren, obwohl dieser sich gerade hier in eine Traditionslinie einreihte und diese im Grunde nur populärer machte. Ein sich wortwörtlich auf Bernhard berufender Nachfolger in dieser österreichischen Schmähprosalinie ist. Alfred Goubran. Er nutzt in seiner Tirade „Der Pöbelkaiser oder mit den 68ern Heim ins Reich“, wie viele andere österreichischen Autoren auch, den von Bernhard erkämpften Freiraum, die durch diesen bekannten Stilmittel und reflektiert ihn als politisch-ästhetischen Meilenstein in Österreich, „der es mit der Erfindung seiner Sprach- und Sprechmühle geschafft hat, einen sprachlichen Analog für die Organisation zu finden, die den einzelnen vernutzt und verregelt“ („Der Pöbelkaiser oder mit den 68ern Heim ins Reich. Ein Brief“, Salzburg, Wien u. Frankfurt am Main 2002). Ein wichtiger Befund, wie ich meine: Goubran erkennt einen Zusammenhang des selbstpersiflierenden Aspekts der Bernhardschen Sprachmaschinierie mit der Österreichkritik.

Die österreichische Literatur war schon immer auch durch die Auseinandersetzung mit dem Begriff Heimat geprägt: „Bernhard ist beileibe nicht der einzige österreichische Schriftsteller, der die symbolische und selbstreflexive Grammatik der Lebenslügen seines Landes in Form negativer Heimatromane dekonstruiert“, schreibt Sigrid Löffler im Literaturen-Special „Hassgeliebtes Österreich“ („Ich bin ein verstümmelter Mensch“, Literaturen, 1/2 2004). Dem kann nur zugestimmt werden, denn vor und zu Zeiten Bernhards bedienten bereits viele Autoren, wie Hans Lebert (siehe Joachim Hoell: „Gegen das Schweigen – für ein Geschichtsbewusstsein. Thomas Bernhard als Leser von Hans Leberts Wolfshaut, in: Bernhard-Tage Ohlsdorf 1996), Gerhard Fritsch, Gert Jonke, Peter Handke, Gerhard Amanshauser oder Franz Innerhofer, die Gattung des Anti-Heimat-Romans. Auch nach ihm blieben die Problematisierung der Existenz auf dem Lande und die provinziellen und anachronistischen Denkungsarten der Österreicher für Schriftsteller wie Norbert Gstrein (zum Beispiel „Einer“, Frankfurt/Main 1988), Christoph Ransmayer, Felix Mitterer oder Peter Truschner wichtige Themen. Bei allen Bedienern dieser Formen finden sich territorial-, stil- und gattungsbedingte Parallelen, aber natürlich auch ganz eigene Konzepte. Sie alle sind Anti-Idylliker. Ihre Texte kreisen um Figuren, die oft bis zum bitteren Ende Außenseiter bleiben. Und ihre Beschreibungen von Landschaft und Menschen zerstören das Bild einer im touristischen Prospekt als heil ausgewiesenen Welt.

Bernhard beeinflusste insbesondere mit dem Frühwerk die Gattung des Anti-Heimat-Romans. Die grausame oder unerbittliche Natur dominiert ebenso wie die nationalsozialistische Vergangenheit. Die negativen Heimatkonstruktionen sind bei Bernhard wie bei allen Vorgängern und Nachfolgern bestimmt durch die oben bereits angesprochene Asymmetrie zwischen dem Subjekt und der Region, in die es hineingeboren ist. Die Bedeutung des umgebenden Raums und seiner Schwerkräfte, die den Einzelnen aus der Tiefe heraus steuern, ist sicher ein Grund für die Ausfaltung der Bernhardschen Raum-Poetik (vgl. Uwe Betz: „Polyphone Räume und karnevalisiertes Erbe. Analysen des Werks Thomas Bernhards auf der Basis Bachtinscher Theoreme“, Würzburg 1997), die zwischen den abgeschiedenen Denkkammern und den Herrschaftssitzen mit Habsburg-Hypothek aufgespannt wurde. Diese Grundstruktur ist aber auch auf die Stadt übertragbar, weswegen bei der Ausfaltung des Anti-Heimat-Schemas im Stile Bernhards kein wirklicher Stadt-Land-Gegensatz besteht, wie etwa beim Großvater und Trotzprovinzler Johannes Freumbichler. Das Negativ wird im Verlauf des Bernhardschen Werks eher vom Land in die Stadt mitgenommen und verwandelt sich dort quasi in die Staats- und Kulturschelte, die urbanere Form der Österreich-Kritik.

Reduziertes Erzählen

Der Bernhardsche Redestrom richtet sich nicht nur gegen Staat, Öffentlichkeit oder Heimat, sondern auch gegen gängige Erzählmuster und literarische Vorbilder. Deshalb bezeichnete sich Bernhard selbst als einen „Geschichtenzerstörer“ („Drei Tage“): Er hielt sich eigentlich nie damit auf, eine Handlung geradlinig auszuarbeiten oder Atmosphärisches zu beschreiben. Seine Texte besitzen kaum sichtbare Einschnitte und sind auf eine mit „Minimal-Vokabular“ berichterstattende Sprachmaschine reduziert. Die Selbstgespräche seiner Protagonisten passte er in mehr oder weniger oberflächliche Erzählrahmen oder in sich quälend wiederholende „sagte Oehler, so Karrer“-Taktungen ein. Diese „zerstörten“ Geschichten werden dann auch noch permanent von Tiraden durchstoßen, schweifen weit ab und kehren unvermittelt wieder in die nur skizzierte Erzählsituation zurück, von der sie ausgegangen waren. Sie scheinen eher von den Widerständen gesteuert zu sein, von denen sie aufgeladen und weitergetrieben werden, als von einer erzählerischen Strategie.

Im Grunde liefert Bernhard also nur das Gerüst einer im Redestrom angedeuteten Erzählung, die der Rezipient für sich ergänzen muss. Aber genau hierin besteht die Strategie der Bernhardschen Reduktionspoetik. Im Filminterview „Drei Tage“ verlieh er ihr im Bild der „Finsternis“ Ausdruck, aus der langsam die Wörter herauskämen und „zu Vorgängen äußerer und innerer Natur“ („Drei Tage“) würden. Vor dieser Finsternis liegt der Leser quasi auf der Lauer, muss selbstständig Sinnzusammenhänge erschließen und hat dabei genügend Spielraum, den gelesenen Text zu seinem eigenen zu machen – oder in manchen Fällen eben sogar einen eigenen zu schreiben.

Mit dem Blick auf die extreme Reduktion erzählerischer Formen gibt es natürlich eine ganze Menge Autoren, die Bernhards Diskurs ein Update verpasst haben. Mir fällt sofort Rainald Goetz ein, der auch des Öfteren in der Presse mit Bernhard in Verbindung gebracht wurde. Seine Texte sind Konglomerate aus Reflexionen, Protokollen und Zitaten, aus denen sich nur schwerlich eine Art Handlung herausschälen lässt. Das Erzählsubjekt ist gespalten und gestattet sich unter anderem immer wieder Erregungen, die sehr an Bernhard erinnern. „Der Staat ist ungeheuerlich, die Ungeheuerlichkeit […] nichttote Menschen werden staatsbefehlsmäßig in Staatskerkern gefoltert, Staatstheater spielen echte Stücke, siehe Stammheim, Stichwort Krieg, […]“ („Kontrolliert“, Frankfurt/Main 1991) In der Radikalität der Zusammenhangsauflösung übersteigt Goetz Bernhard aber bei weitem. Goetz atomisiert beispielsweise in „Kontrolliert“ jede Perspektive im „Automaten des Erzählens, das sich selbst erzählt“. Und „Sagen“ ist bei Goetz ganz und gar Defiziterfahrung. Seine Selbstgespräche sind nicht nur Lüge und Übertreibung, wie es Bernhard wiederholt formuliert, sondern Auslöschung des Gesagten.

Die Kunst des Reduzierens zeigt sich meines Erachtens auch an der flachen Intertextualität im Werk Thomas Bernhards: Wenn literarische und philosophische Wortväter dort angeführt werden, dann sind sie stets bereits vollkommen dem Redestrom einverleibt. Aus ihren ursprünglichen Kontexten gerissen, werden sie so reduziert, dass sie sich ins Spiel des Textes einpassen. Insbesondere das ausschweifend vollzogene Name-Dropping deutet intertextuelle Bezüge an, die vor allem professionelle Rezipienten ganz nach ihrem Gusto ausbauen und so Zusammenhänge mit den Prätexten konstruieren, die im Grunde aber nur wenig substanziellen Rückhalt aus dem Bernhardschen Werk bekommen.

Jörg Uwe Sauer hat diese Form des andeutenden Bezugsnehmens in seinen Roman „Uniklinik“ spielerisch dekonstruktiv überzogen und damit die Technik Bernhards offengelegt. In der Sauerschen Burleske wird ein ganzes Bernhard-Universum aufgebaut und mit vielen anderen Anspielungen und Namen vermischt. In meinem Beitrag für das „Thomas-Bernhard Jahrbuch 2003“ (Uwe Betz: „Über das Bernhardisieren. Von Nachfolgern und Pla(y)giatoren Thomas Bernhards“) habe ich diesen Text ausführlich interpretiert. Fazit der Interpretation: Sauer arbeitet mit der Lust an der Mustererkennung der Leser und macht damit Bernhards Umgehensweise mit Prätexten augenfällig. Er zeigt, dass mit Andeutungen mehr beim Leser zu bewegen ist als durch argumentatives Ausformulieren der Zusammenhänge, und schreibt sich in die Bernhardsche Übertreibungskunst wie in eine Gattung ein. Das macht den Unterschied zu den bisher besprochenen Texten: Stil und Werk Bernhards sind selbst Ziel dieses literarischen Spiels, weshalb es sich rechtfertigt, von einer Parodie zu sprechen.

Wie man trotz Adaption von Bernhards Texten nicht unter Verdacht gerät, Bernhard zu imitieren und trotzdem substanziell mit Prätexten umgehen kann, zeigt der Roman „Fall“ (München 2000) von Ernst-Wilhelm Händler, eine Textmontage aus Geschäftskorrespondenzen, nüchternen Betrachtungen des geschäftlichen sowie sozialen Umfelds und eines Spiels mit mehreren literarischen Vorlagen. Der Held Georg Voigtländer imaginiert sich unter anderem in die fiktionale Wirklichkeit von „Auslöschung“, um für sich ein Experimentierfeld aufzuspannen, auf dem er seine schwierige Situation im ererbten Familienbetrieb verarbeitet. Die Parallelen zur Hauptfigur Franz-Josef Murau sind überdeutlich: Beide sind mit einem Erbe konfrontiert, das sie in der vorliegenden Form eigentlich ablehnen müssen. Durch die Selbstfiktionalisierung kommt Voigtländer seinem literarischen Pendant in Gesprächen sehr nahe, sieht sich als „Muraus natürlicher Erbe“ und liefert so eine neue Interpretation dieser Figur, wobei er den „übergeordneten Erzähler“, also im Grunde Thomas Bernhard, übergeht: Murau spräche im Unterschied zu seinen Aufzeichnungen abgehackt und völlig arhythmisch. Laut Voigtländer hätte er immer gewusst, dass er Wolfsegg niemals der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien vermachen würde. Er habe sich damit in seinen Aufzeichnungen nur einen „Scherz“ erlauben wollen. Außerdem hätte er nur aus Schuldgefühlen über die nationalsozialistische Vergangenheit seiner Eltern Umgang mit Eisenberg gehabt.

Im Unterschied zu Bernhard verarbeitet Händler seine Prätexte intensiv und lässt sie mit anderen literarischen Vorlagen verschmelzen. Der Leser beschäftigt sich über lange Passagen mit Figuren, Begriffen, Schreibweisen und Themen Bernhards, ohne je auf die Idee zu kommen, hier würde imitiert. Stattdessen lotet Händler „Auslöschung“ für seinen Helden Voigtländer und vermutlich für sich selbst aus (auch er übernahm einen Industriebetrieb), ergänzt das aus Muraus Sicht abgeschlossenste und gleichsam für Rezipienten unabgeschlossenste Buch um Figuren und Perspektiven, stellt sich Fragen zu der Richtigkeit von Angaben und unterzieht Handlungen und Aussagen einer Revision. Zwar steigt Händler tief ins Handlungsgerüst von „Auslöschung“ ein, um für ihn wichtige Zusammenhänge weiterzuspinnen. Aber sein Text wirkt nicht erläuternd, sondern ebenso reduziert und offen, in seinem Gesamteindruck potenziert und letztlich fragmentierter, weil durch keine durchgängige Stimmlinie zusammengehalten. Hierin erinnert „Fall“ eher an die frühen Werke Bernhards, wie „In der Höhe“, „Amras“ oder „Ungenach“.

Texte, die die Grundlage dieses Artikels bilden:

Uwe Betz: Dialog mit Thomas Bernhard. Die innerliterarische Rezeption des österreichischen Schriftstellers unter dem Blickwinkel von Bachtins Metalinguistik und Worttypologie. In: Bachtin im Dialog. Festschrift für Jürgen Lehmann, hrsg. v. Markus May u. Tanja Rudtke, Heidelberg 2006, S. 193.

Uwe Betz: Unter Bernhard-Verdacht. In: Thomas Bernhard Jahrbuch 2005/06, hrsg. v. Martin Huber, Bernhard Judex und Wendelin Schmidt-Dengler, Wien, Köln, Weimar 2006, S.175.