Lass dich von dem Kinde führen, das du einmal warst

Über José Saramagos „Kleine Erinnerungen“

Von Andreas HudelistRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Hudelist

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ich stelle mir absurderweise vor, alles würde wieder werden, was es einmal war“ schreibt José Saramago zu Beginn von „Kleine Erinnerungen“ und zeigt damit, welche Schwierigkeiten mit dem Erinnern einhergehen. Im Vordergrund steht hier vielleicht die Sehnsucht, sich die schönen Erlebnisse zu vergegenwärtigen und dadurch die Gegenwart für einen wehmütigen Augenblick aus der allgemeinen Wahrnehmung verschwinden zu lassen. So könnte man zumindest das den Erinnerungen vorangestellte Zitat „lass dich von dem Kinde führen, das du einmal warst“ aus dem Buch der Ratschläge verstehen. Einer der Schwerpunkte dieser Schrift liegt jedoch unter anderem in den Problemen des Schreibens und Beschreibens. Welche Ausdrücke und Phrasen können das Erinnerte fassen? Denn das Wort ist nicht nur immer ein Verweis, sondern auch leer. In seinem Roman „Die Reise des Elefanten“ schreibt Saramago über das Problem der Sprache: „Die größte Missachtung der Realität, ganz gleich, wie diese beschaffen ist, liegt darin, den sinnlosen Versuch zu unternehmen, […] zu beschreiben, denn wir müssen dies mit Worten tun, die nicht die unseren sind, die nie die unseren waren, mit Worten, die bereits millionenfach niedergeschrieben und ausgesprochen wurden, bis es an uns war, sie zu verwenden, mit Worten, die müde und erschöpft sind, weil sie so viel herumgereicht wurden und überall ihre lebenswichtige Substanz hinterließen.“

Ähnlich problematisch wie das Beschreiben an sich scheinen auch die Erinnerungen zu sein. Sinnlos kann der Versuch dann werden, wenn die Erinnerungen nicht reflektiert und aus der gegenwärtigen Sicht betrachtet werden. Denn viele Geschichten sind fremd im Gedächtnis geblieben, weil sie „erst im Nachhinein über Beteiligte vermittelt wurden, sofern diese sie nicht selbst bereits aus zweiter Hand hatten“. So ist „Kleine Erinnerungen“ der Versuch, Episoden aus der Kindheit und Jugend zu rekonstruieren. Denn durch die Geschichten, die Saramago von anderen erzählt bekam, und durch die Sprache ist das, was einmal war, uneinholbar in die Ferne gerückt. Dem portugiesischen Schriftsteller gelingt dennoch eine wunderbare kleine Biografie, wenn auch absurderweise, wie er schreibt. Durch das Erinnern schreibt er und durch das Schreiben erinnert er sich. Wichtig bleibt hier der Prozess, welchen Saramago durch die vielen Verweise auf die Vielzahl der veröffentlichten Romane macht.

Für ihn ist der Text eine „kleine Autobiographie“. Zum einen vielleicht wegen dem geringen Umfang, zum anderen aber viel mehr, weil es sich um Erinnerungen handelt, welche die Zeit beschreiben, in der er klein war. So thematisiert er seine Geburt und Kindheit im Dorf Azinhaga in der spanischen Provinz Ribatejo, bis er seine Jugend in Lissabon poetisch reflektiert. Dabei schreibt er nur über die Erinnerungen, die in seinem Gedächtnis abrufbar sind. Er versucht nicht ein vollständiges Bild seines Heranwachsen künstlich zu zeichnen, sondern bleibt in den Geschichten fragmentarisch. Dadurch schafft er eine einprägsame und lebendige Stimmung, welche den Leser das Buch nicht aus den Händen geben lässt.

Einerseits gibt es viele kurze Abschnitte, welche eindringliche Episoden aus seinem Leben wiedergeben. Andererseits beschreibt er nahezu teilnahmslos Gegebenheiten, an die er sich vermeintlich erinnern müsste, es aber nicht tut: „Das Haus in dem ich geboren wurde, existiert nicht mehr, aber das ist mir gleichgültig, denn ich habe keine Erinnerung daran, dass ich je darin gelebt habe.“

Rührend beschreibt Saramago, wie er zum ersten Mal mit Literatur in Berührung kam und wie fasziniert er von der geschriebenen Sprache war, als die Nachbarin ihm und seiner Mutter (sie war Analphabetin) aus dem Roman „Maria, die Waldfee“, welcher wöchentlich als 16-seitige Broschüre ins Haus kam und von seinen Eltern auf Grund der großen Popularität abonniert wurde, vorlas. Seither ließ ihn das geschriebene Wort und die Welt der Fantasie nicht mehr los. So beeindruckte er seine Freunde als sie am Kino vorbeigingen, da er immer behauptete die meisten Filme zu kennen und auf Grund der Filmtitel Geschichten erfand. In Wahrheit konnte er sich nur wenige Kinobesuche leisten.

Als Zezito, so nannte man ihn in der Familie, in die zweite Klasse kam, prüfte die Lehrerin seine Rechtschreibung. Er hatte nur einen Fehler und beeindruckte Mitschüler und Lehrerin: „Wenn ich es mir recht überlege, begann an diesem Tag mein Leben.“

Von der ersten Seite an fasziniert Saramagos Sprache und lässt den Leser sich in der Welt der Episoden von Jugendgeschichten verlieren. „Kleine Erinnerungen“ ist ein kurzweiliges Lesevergnügen, ein sehr persönliches Buch, welches Saramagos literarisches Schreiben unter neuen Gesichtspunkten zugänglich macht. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Bedeutung seines vermeintlichen Familiennamens, welcher einem Beamten der Geburtenregistrierung zu verdanken ist. Saramago bezeichnet nämlich den Ackerretich, welchen die Armen als Nahrung in Portugal zu sich nahmen. Sein wirklicher Name José de Sousa wurde ohne Wissen der Eltern bei der Namensregistrierung, vielleicht aus reiner Belustigung des Beamten, mit Saramago erweitert. Heute ist der portugiesische Nobelpreisträger auf der ganzen Welt eigentlich nur unter dem Namen José Saramago bekannt, da er diesen Nachnamen dankbar als sein Pseudonym annahm.

Titelbild

José Saramago: Kleine Erinnerungen.
Übersetzt aus dem Portugiesischen von Marianne Gareis.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2009.
160 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783498063993

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