Integrierendes zum Philosophen der Desintegration

Christof Kalbs Studie zur Leib- und Sprachphilosophie Friedrich Nietzsches

Von Geret LuhrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Geret Luhr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Für viele seiner neueren Interpreten ist Friedrich Nietzsche der große Philosoph der "Desintegration". Man sieht in ihm einen destruktiven oder doch zumindest dekonstruktiven Denker, der seiner Zeit weit vorauseilte, indem er die Bastionen des Sinns Stück für Stück emendierte. Gegen solche einseitigen Lesarten wendet sich Christof Kalb in seiner Studie über Nietzsches Leib- und Sprachphilosophie. Angesichts der Tatsache, dass die verschiedenen Forschungsrichtungen darin übereinstimmten, es sei Nietzsches Ziel gewesen, die philosophischen Bestände der Moderne aufzulösen, fragt Kalb sich, ob Nietzsche über diesen Konsens unter seinen Interpreten nicht schon längst einen entscheidenden Schritt hinaus gewesen wäre. Und so lasse sich das gängige Nietzsche-Bild um einen neuen Akzent bereichern, schreibt er, wenn man jene Gedankengänge aufnehme, "in denen Phänomene der Desintegration nicht den Ziel-, sondern den Ausgangspunkt der Argumentation bilden." Denn auf diese Weise komme ans Licht, "daß Nietzsche 'am Leitfaden des Leibes' die Spur symbolischer Reintegration verfolgt" habe.

Soweit das Programm einer Forschungsarbeit, die versucht, zwei Stränge der Philosophie Friedrich Nietzsches miteinander zu verknüpfen: seine Gedanken und Theorien zur Sprachphilosophie und seine leibphilosophischen Überlegungen. Allerdings konstruiert Christof Kalb diese Verknüpfung aus einer besonderen Perspektive heraus, denn er liest und interpretiert die beiden philosophischen Linien des Werks mit Blick auf Nietzsches Philosophie der Selbstbildung. So sieht Kalb die eigentliche Bedeutung Nietzsches darin, dass er Subjektivität nicht, wie in der Neuzeit üblich, als "Beziehung des vorstellenden Ichs zu seinen eigenen Vorstellungen von den Objekten" erläutere, sondern als Leiblichkeit vorstelle und diese Leiblichkeit wiederum auf Sprache beziehe. Wie ist das zu verstehen? Nietzsche, so Kalb, deute sprachliche Phänomene stets in ihrem Bezug zur Leiblichkeit, während er zugleich die symbolische Verfassung des Leibes herausarbeite.

Die jeweils unterschiedlichen Argumentationsformen, die Nietzsche in diesem Zusammenhang ausgebildet und verwendet hat, rekonstruiert Kalbs Studie in sieben Kapiteln. Da Nietzsche die entsprechenden Argumente zu verschiedenen Zeiten entwickelt hat, zeichnet Kalb zugleich ein Bild von der philosophischen Entwicklung Nietzsches insgesamt: dem aufmerksamen Schopenhauerschüler folgt der eigenständige Kunstmetaphysiker und schließlich der Natur- und der Machtphilosoph Nietzsche. Wertvoll wird Kalbs Studie aber vor allem dadurch, dass seine so detaillierten wie lehr- und kenntnisreichen Lektüren Nietzsches diese Grenzen immer wieder verwischen und aufheben. Indem er versucht zu zeigen, dass Nietzsche auf eine symbolische Reintegration des Subjekts zielte, zeigt Kalb zumindest, dass sich so etwas wie eine reintegrative Interpretation Nietzsches leisten lässt.

Titelbild

Christof Kalb: Desintegration. Studien zu Friedrich Nietzsches Leib-und Sprachphilosophie.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
350 Seiten, 12,70 EUR.
ISBN-10: 3518290681

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