Ein Rädchen im Getriebe

Im Roman „Sittenlehre“ gibt der Argentinier Martin Kohan präzise Einblicke in den Mikrokosmos eines diktatorischen Regimes

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Große Dinge beginnen im Kleinen. Dies gilt besonders für repressive Systeme. Sie halten ihr Regime nur solange aufrecht, wie sie der Macht bis in die untersten Hierarchiestufen hinab Nachachtung verschaffen. Ein Heer von Mitläufern und Helfern setzt als willige Rädchen die obrigkeitliche Order um – beispielsweise am Colegio Nacional, einem Gymnasium für die kommenden Eliten. Im Roman „Sittenlehre“ erzählt der 1967 geborene Martin Kohan am vergleichsweise unscheinbaren Detail, wie Diktaturen funktionieren.

Wir schreiben das Jahr 1982, in Argentinien herrscht seit sechs Jahren (wieder) eine Militärdiktatur, die dem Land Tugend und Ordnung vorschreiben will. Vorsicht ist erst recht angebracht, seit ein nicht näher bezeichneter Krieg – der Konflikt um die Falklandinseln – die nationalen Instinkte schürt. Auch am Colegio Nacional wird daher dekretiert, dass verstärkt nationale Werte gepredigt und die Schüler tüchtig auf die Nationalhelden Bartolomé Mitre und Manuel Belgrano eingeschworen werden. Äußerlich aber geht alles seinen gewohnten Gang: das tägliche Antreten und in der Reihe Stehen, die demütige Unterwerfung unter das strikte Sittenregime. Über dessen Einhaltung wacht in jeder Klasse ein Aufseher oder eine Aufseherin, deren Aufgabe es ist, Regelverstöße im Keim zu erkennen und allfälligen Verdacht nach oben zu melden. Seit kurzem arbeitet auch María Teresa im Team des unerbittlichen Herrn Biasutto mit. In der zehnten Obertertia sorgt sie für die Einhaltung der Kleiderordnung, kontrolliert das morgendliche Einstehen und beaufsichtigt die Schüler in ihren Pausen. Noch jung und unsicher, übt sich María Teresa im aufmerksamen Beobachten, wobei sie schnell merkt, dass zwischen Beobachterin und Beobachteten eine gefährliche Spannung entsteht. Die permanente Kontrolle provoziert auf beiden Seiten, wobei sich der eigentliche Kampf im Kopf der Aufseherin selbst abspielt.

Martin Kohan schildert das mit akribischer Präzision. María Teresa beobachtet, wie der Schüler Capelán der Schülerin Marré vor ihm die Hand an die Schulter legt, um Abstand zu nehmen. Alles geschieht wie befohlen, dennoch glaubt María Teresa eine mögliche Insubordination darin zu erkennen, dass Capelán der Mitschülerin unmerklich mit dem Finger über die Schulter streicht. „Schamlos üben sich die Schüler in der Kunst der Verstellung […]. Nicht Capeláns Gesicht erforscht sie nun insgeheim, sondern das von Marré. Und dabei bemerkt sie oder glaubt sie zu bemerken, dass Marré langsam die Augen schließt – eine Art Blinzeln, aber in Zeitlupe. Sie fasst es so auf […].“

Martin Kohan hält seinen Blick hart auf diese Szene drauf, er protokolliert peinlich genau, wie in Zeitlupe, weniger um das im Grunde marginale Geschehen festzuhalten, sondern um so tief ins subliminale Verdachtssystem der Aufseherin einzutauchen. María Teresa fühlt sich dabei durch Herrn Biasutto bestätigt, den eigene Erfahrung gelehrt hat, dass Subversion wie eine Krebserkrankung sei, „zuerst befällt dieser Krebs ein Organ, sagen wir, die Jugend, er infiziert sie mit Gewalt und abwegigen Ideen; doch dann breitet der Krebs sich aus, das nennt man Metastasen, und die muss man unbedingt bekämpfen, auch wenn sie nicht so gefährlich scheinen, denn der Krebs steckt da überall mit drin“.

Was also beobachtet María Teresa: einen Krebs im Anfangsstadium, oder ihr eigenes Wissen um den möglichen Krebs? In diesem Dilemma gefangen stößt ihr Kontrollblick in neue Sphären vor und nimmt zusehends absonderliche Züge an. Eines Tages glaubt María Teresa beim Vorübergehen des Schülers Baragli einen Hauch von Zigarettenrauch wahrzunehmen. Dies bestärkt sie im Verdacht, dass irgendwo in der Schule heimlich geraucht werde – ein schwer zu bestrafendes Delikt. Der Verdacht verfestigt sich zur Manie, und María Teresa beginnt sich in der Knabentoilette einzuschließen, denn nur hier, glaubt sie, würde sie die Täter in flagranti ertappen.

Martin Kohan beschreibt seine Heldin mit doppelbödiger Anteilnahme. María Teresa ist keine zynische Aufseherin, auch wenn sie überaus beflissen ihre Aufgaben erfüllt, um Herrn Biasutto zu gefallen. Spätestens zu Hause fällt jegliche Überheblichkeit von ihr ab und macht größter Unsicherheit Platz. Im Grunde weiß sie mit ihrem Leben noch nichts Rechtes anzufangen. Sie lebt zusammen mit ihrer Mutter, die am liebsten TV ohne Ton schaut, weil sich das Gerede ohnehin wiederholt. Ab und an erhält sie von Francisco, ihrem Bruder, aus dem Militärdienst Postkarten, die freilich von Woche zu Woche nichtssagender ausfallen, bis schließlich nicht einmal mehr sein Name draufsteht.

Ihre Schüchternheit bringt María Teresa erst recht auf ihrem Beobachtungsposten in eine peinliche Lage. In der Toilettenkabine versteckt, stellt sie sich vor, wie die Schüler gleich nebenan „ihr Männerding“ auspacken, pissen, das Ding schütteln und wieder einpacken: ein Vorgang von nicht geringer Anziehungskraft. Allmählich erliegt María Teresa so einer voyeuristischen Erotik der Kontrolle, und „irgendwann fühlt sie sich tatsächlich gut bei dem, was sie da macht“.

Kohan beschreibt es mit peinlicher Ausführlichkeit und zeigt so unter dem literarischen Mikroskop, was im Kopf der Aufseherin vorgeht. Trotz ihrer bösen Absicht wirkt María Teresa dabei keineswegs unsympathisch, ja die verfängliche Situation erzeugt sogar überraschende Spannungseffekte: Wird sie entdeckt, oder entdeckt sie wen? Hierin demonstriert Martin Kohan eine stupende Ausdruckskraft, die ganz und gar gezügelt der Fantasie freien Lauf lässt. Seine strenge, poetische Analyse des argentinischen Sittenregimes überzeugt, gerade weil sie sich auf scheinbar Nebensächliches konzentriert.

Indem der schmierige Herr Biasutto eines Tages in der Knabentoilette auftaucht, zeigt sich, dass kleine Rädchen wie María Teresa nur im Zusammenspiel mit größeren Rädchen drehen, in die eine oder andere Richtung. So lässt sich aus dem Detail das Ganze rekonstruieren. Doch weil der Autor seine Heldin auch mag, rettet er sie (vor Herrn Biasutto), indem im Juni 1982 der Falklandkrieg mit einer Schmach zu Ende geht, welche die Obrigkeit unter anderem dazu nötigt, die gesamte Schulleitung auszuwechseln.

Im Kleinen beginnt alles Große, das gilt ganz besonders auch für dieses glänzende literarische Kammerspiel.

Titelbild

Martin Kohan: Sittenlehre. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Peter Kultzen.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010.
247 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783518421826

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