Ein kaleidoskopisches Familienporträt

Michael Schröter hat Sigmund Freuds Briefe an seine Kinder herausgegeben: „Unterdeß halten wir zusammen“

Von Judith BergesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Judith Berges

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Warum sollen wir diese Briefe lesen? Werden sie aus der Trivialität herausgehoben, weil sie nicht von irgendjemandem stammen, sondern vom Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud?“ So fragt der Herausgeber am Anfang seiner Einleitung. Seine Antwort lautet, dass diese Briefe in einzigartiger Weise den Zusammenhang zwischen Freuds Person und seinem Werk aufzeigten, durchdrungen von demselben „Ethos der Aufrichtigkeit“, derselben „irdisch-handfesten Humanität“, die Freuds Schriften auszeichnen.

Es lassen sich durchaus weitere Argumente für die Lektüre finden. Da ist zunächst das Interesse am Innenleben einer Familie, an dem der Leser hier in seltener Detailliertheit aus mehrfacher Perspektive teilhat. Zwar kommt in erster Linie Freud selbst zu Wort – Briefe der Kinder und in Ausnahmen auch der Mutter Martha Freud werden gelegentlich zum besseren Verständnis auszugsweise zitiert – , doch reichen diese Zitate aus, um einen Eindruck vom Charakter der Briefpartner zu vermitteln und dem Familienbild eine Farbe hinzuzufügen, zumal den einzelnen Briefwechseln je eine informative biografische Skizze des betreffenden Freud-Kindes vorangestellt ist und der Abdruck der Briefe durch Fußnoten etwa zu unbekannten Namen gründlich ergänzt wird.

Zudem liest man diese Briefsammlung auch als Dokument der Zeitgeschichte mit Gewinn. Die Hauptthemen sind Geld, Gesundheit, Reisen, Fragen der Berufswahl, der Ehe und der Sexualität. Und so hat der Leser auch eine Milieustudie vor sich, einen Einblick in das Leben einer bürgerlichen Familie des frühen 20. Jahrhunderts. Politik kommt in der Regel nur insofern vor, als sie das persönliche Leben berührt. Das ist jedoch während des Ersten Weltkriegs und in der Zwischenkriegszeit, insbesondere nach der Machtergreifung Hitlers, oft der Fall. Die Briefe sind dabei weniger Ausdruck politischer Reflexion als individueller, im Ton durchaus zeittypischer Reaktion auf die Ereignisse, etwa wenn die älteste Tochter Mathilde im Juli 1914 schreibt: „Hier wird auch riesig viel politisiert und wir Frauen sind alle darin einig, dass man gegen die Serben losschlagen muss.“

Da viele Briefe – neben den Kriegsbriefen – aus den Ferien stammen, entsteht mitunter der Eindruck, alle kurten unentwegt. Wenn das auch nicht der Fall ist, so wird doch deutlich, dass Auszeiten in Form ausgedehnter Reisen, Ferien, aber auch Krankheits- und Genesungszeiten deutlich mehr Zeit in Anspruch nahmen als heute. Erholungsaufenthalte von mehreren Monaten sind nicht selten. Dabei werden die Reisen der erwachsenen Kinder samt Familien, wie immer wieder auch deren Lebensunterhalt, regelmäßig aus dem elterlichen Vermögen finanziert.

Dies erinnert an andere berühmte Familien derselben Generation; der Gedanke an die Manns etwa drängt sich auf. Doch anders als den weitaus dramatischer in ihr Familienschicksal verstrickten Mann-Kindern gelang es letztlich allen Kindern der Familie Freud – wenn auch in unterschiedlichem Maß – sich ein eigenständiges Leben aufzubauen. Und immer wieder zeigt sich, dass Freud zwar auch als Vater eine dominante Figur gewesen sein muss, dass er sich jedoch gegenüber seinen Kindern auch bewusst zurückzunehmen und ihnen notwendige Freiräume einzuräumen wusste. Die Kinder reagierten mit entsprechender Zuneigung und Treue zur Familie. Sehr deutlich wird, wie viele Krankheiten und krankheits- aber auch kriegsbedingte Todesfälle man ertragen musste. So rufen diese Briefe auch in Erinnerung, unter welchem Eindruck existenzieller Zerbrechlichkeit des Menschen Freuds Werk entstand.

Titelbild

Sigmund Freud: Unterdeß halten wir zusammen. Briefe an die Kinder.
Herausgegeben von Michael Schröter.
Aufbau Verlag, Berlin 2010.
683 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783351033026

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