Der Markt ist aus den Fugen
Joseph Vogls gefeierte Fundamentalanalyse des Kapitalismus hinterfragt harmonisierende Konzepte der Finanzökonomie
Von Manuel Bauer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseGeht ein Gespenst um auf den Kapitalmärkten der Welt? Oder geht es mit rechten Dingen zu? Womöglich ist die Frage falsch gestellt, da sie einen Gegensatz suggeriert, der so nicht haltbar ist. Geht es vielleicht nur deswegen mit rechten Dingen zu, weil auf diesen Kapitalmärkten Gespenster umgehen, die ungeachtet ihres eigenen spukhaften Daseins andere gespenstische Existenzen beglaubigen?
Während das von Karl Marx und Friedrich Engels beschworene „Gespenst des Kommunismus“, das Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa umging und alle Mächte des Kontinents erschütterte, längst kaum noch jemanden nachhaltig schrecken kann, ist das Gespenst des Kapitals ein weitaus wirkmächtigerer Zeitgenosse, hat es doch bei den welterschütternden Finanzkrisen der letzten Jahre stets seine unsichtbaren Hände im Spiel. Joseph Vogl, längst einer der profiliertesten Köpfe gegenwärtiger kulturwissenschaftlicher Debatten und Vordenker einer literaturwissenschaftlichen Hinwendung zu ökonomischen Themen, kehrt nach seiner Habilitationsschrift „Kalkül und Leidenschaft“, die die Genese des ökonomischen Menschen zu rekonstruieren suchte, zur Analyse wirtschaftlicher Zusammenhänge zurück – und geht dabei aufs Ganze. Nicht eine Untersuchung historischer Zusammenhänge und Denksysteme allein, sondern auch eine Fundamentalanalyse moderner finanzkapitalistischer Theorie und Praxis, die zudem nicht nur für ein akademisches Fachpublikum, sondern für eine interessierte, theorieaffine kritische Öffentlichkeit gedacht ist, legt Vogl mit seinem Büchlein „Das Gespenst des Kapitalismus“ vor. Die Rechnung, so gewagt und spekulativ sie auch klingt, geht auf. Das zeigt nicht zuletzt der Erfolg des Textes beim Publikum und in den großen Feuilletons der Republik.
In „Kalkül und Leidenschaft“ hat Vogl herausgearbeitet, dass politische Ökonomie keine abgegrenzte Disziplin ist, sondern ein Diskurszusammenhang, der sozialphilosophische, politische, ästhetische und anthropologische Dimensionen umfasst. So verwundert es nicht, dass er nun erneut Überlegungen aus verschiedenen Bereichen mit einander in Beziehung setzt und eine im besten Sinne kulturwissenschaftliche Analyse vorlegt, die hermeneutische und semiotische Interessen verfolgt, ohne dabei die wirtschaftstheoretische Diskussion aus den Augen zu verlieren.
Vogl macht keinen Hehl daraus, dass er von „einer gewissen Unheimlichkeit ökonomischer Prozesse“ ausgeht, „in denen zirkulierende Objekte und Zeichen einen gespenstischen Eigensinn entwickeln“. Gerade dass sich Vogl in einem Spannungsverhältnis zu seinem Gegenstand befindet, dass er also nicht die scheinbar selbstverständlichen Gesetzte des Marktes als gegeben anerkennt, macht seinen Text so interessant und aufschlussreich. Sigmund Freud zufolge ist das „Unheimliche“ bekanntlich „jene Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht“. Vogl hinterfragt just dieses Altbekannte und Längstvertraute und gewinnt ihm geradezu unfassbare, fantastische und unheimliche Aspekte ab.
Mit einiger Vehemenz wird die Frage gestellt, ob das, was auf den internationalen Finanzmärkten geschieht und den meisten Betrachter höchst undurchsichtig erscheint, „ein Zusammenspiel vernünftiger Akteure oder ein Spektakel reiner Unvernunft“ ist. Diese Frage wird sehr differenziert, abwägend und mit großer analytischer Schärfe diskutiert. Es ist nicht das geringste Verdienst des Buches, dass die anspruchsvollen und mit geistesgeschichtlichem nicht minder als mit wirtschaftstheoretischem Sachverstand fundierten Ausführungen trotz gelegentlicher Redundanzen über weite Strecken gut lesbar sind. Dieser Umstand ist alle andere als trivial, schließlich ist die Formalisierung, die seit dem frühen 20. Jahrhundert die Wirtschaftstheorie dominiert, nicht unschuldig an der hermetisch anmutenden Sphäre, die ökonomische Theoriebildung umgibt.
Dem eigenen Anspruch nach ist der Essay der „Versuch zu verstehen, wie die moderne Finanzökonomie eine Welt zu verstehen versucht, die durch sie selbst hervorgebracht wurde“. Auf welche Weise diese schwer dechiffrierbare Welt von den ökonomischen Wissenschaften generiert wurde und wie sie strukturiert ist, beleuchtet Vogl, bisweilen etwas sprunghaft, anhand einiger zentraler historischer Etappen und skizziert dabei nicht weniger als eine Kulturgeschichte des ökonomischen Denkens. Dass er dabei ein ums andere Mal die Ergebnisse eigener früherer Überlegungen wiederholt, ist verzeihlich.
Besonderes Augenmerk wird stets auf die Kohärenz und die Plausibilität des Geschehens auf den Finanzmärkten gerichtet. Die Häufung von Finanzkrisen seit den 1980er-Jahren ist mit ökonomischer Wahrscheinlichkeitsrechnung schlichtweg unvereinbar. Die Lesbarkeit der ökonomischen Welt ist nicht mehr gegeben, weshalb die Wirtschaftswissenschaft, „die Glaubenslehre unserer Tage, völlig verschiedene und widersprüchliche Interpretationen“ aufbiete, um die sich nicht mehr kohärent präsentierenden finanzökonomischen Ereignisse zu erklären. Auf welche Weise einzelne Zahlungsereignisse miteinander verknüpft sind, erscheint allenthalben rätselhaft. Was auf dem Spiel steht, ist also „nicht weniger als die Konsistenz, d.h. der Ordnungsgehalt des finanzökonomischen Systems“ und damit auch die adäquate wissenschaftliche Darstellungsform ökonomischen Wissens.
Analog zur Theodizee-Frage stellt Vogl also die „Oikodizee“-Frage. Ist das Wirtschaftssystem prinzipiell rational, effizient und geordnet und stellen Krisen lediglich eine bedauerliche Ausnahme dar, oder ist vielmehr von einer vorherrschenden Irrationalität und fehlender Kohärenz und Ordnung auszugehen? Der Versuch, diese Frage angemessen zu diskutieren, bringt Deutungen des Finanzsystems mit sich, die zu überzeugen wissen, auch wenn sie in ihren Grundzügen nicht ganz und gar neu sind. Dennoch kommt Vogl im Detail immer wieder zu originellen Interpretation und überraschenden Erkenntnissen.
Obwohl Vogl abwägend argumentiert, schleicht sich doch immer wieder Polemik ein, etwa wenn er über die „mit Nobelpreisen prämierte Verwandlung von Ratespielen in Finanzwissenschaft“ spöttelt. Keine Frage, der neoliberale wirtschaftstheoretische Mainstream ist ganz sicher nicht Vogls intellektuelle Heimat. Spätestens gegen Ende seines Essays kommt er nicht umhin, seine eigene Position mit einiger Deutlichkeit zu markieren. Große Sympathien hegt er für die Theorie des Mathematikers Benoit Mandelbrot. Dessen Untersuchungen über die Dynamik von Preisentwicklungen weisen Marktprozesse als inkompatibel mit Konzepten des Gleichgewichts aus. Der Markt erscheint als „strukturiertes Chaos“. Gängige Erklärungsmuster müssen daher versagen, es deute sich gar ein „Ende ökonomischer Theorie“ an.
Großen Raum gibt Vogl Zweifeln an der Fähigkeit (neo)klassischer Begrifflichkeit wie Effizienz, Selbstregulierung, rationale Erwartung oder Gleichgewicht, die Prozesse der Finanzökonomie zu erfassen. Größeres Zutrauen hat Vogl zu Vertretern eines „radikalisierten Keynesianismus“ wie etwa Hyman Minsky, die zwischen finanzökonomischen und marktwirtschaftlichen Konzepten strikt unterscheiden. Damit befindet sich Vogl auf der Höhe des Zeitgeistes, da auch andernorts als Reaktion auf Deutungsversuche der Krise vielfach eine Fortführung des Denkens von John Maynard Keynes vollzogen und die „Rückkehr des Meisters“ (Robert Skidelsky) proklamiert wurde. Finanzökonomische Prozesse sollen nicht als harmonische Ordnungssysteme gedacht werden, da sie „ein dynamisches Ungleichgewicht und eine irreduzible Instabilität im Systemverhalten dokumentieren“. Gefordert wird mithin eine Neuausrichtung des finanzökonomischen Wissens, die es wagt, nicht mehr von Ordnung und Harmonie, sondern Instabilität und Dysfunktionalität auszugehen und die das Gespenstische moderner Finanztransaktionen, bei denen stets mit einer notwendig ungewissen Zukunft so kalkuliert wird, als könne man über diese belastbare Prognosen wagen, beim Namen nennt und nicht mehr vorbehaltlos goutiert.
Inwiefern das von Vogl unterstütze neokeynesianische Denken den Blick einer breiteren kritischen Öffentlichkeit auf finanzökonomische Vorgänge zu verändern vermag, bleibt freilich abzuwarten. Sicher ist hingegen, dass die Konstellation für einen solchen Ansatz lange nicht mehr so glücklich war. Auch wenn Vogls bereits im Titel auf ein berühmtes Manifest anspielendes kampfeslustiges Büchlein sicherlich kein solcher Meilenstein wie seine Habilitationsschrift ist: Dieser Essay wird im unvermindert prosperierenden Feld kulturwissenschaftlicher Aufarbeitungen ökonomischer Zusammenhänge seinen Platz behaupten. Nicht nur, weil die Sensibilität für den gespenstischen Charakter der Finanzwirtschaft, die durch die noch immer nachwirkenden Krisen der letzten Jahre geschärft wurde, seinem Erfolg günstig ist. Er ist darüber hinaus seinem hohen theoretischen Anspruch zum Trotz als erste Hinführung zu diesem Themenkomplex geeignet.
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