Der Sinn der Sinnlichkeit

Stefanie Voigt und Markus Köhlerschmidt analysieren die „philosophische Wollust“ von Sokrates bis Peter Sloterdijk

Von Josef BordatRSS-Newsfeed neuer Artikel von Josef Bordat

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Stefanie Voigt und Markus Köhlerschmidt wagen sich an ein zugleich ungewöhnliches und heikles Thema: Sex und Philosophie. In ihrer historisch angelegten Analyse (ein Durchgang durch die Epochen von der Antike bis hin zur „Post-Moderne“) leisten sie eine solide Synthetisierung dessen, was bekannte Denker über Liebe, Sex und Partnerschaft dachten. Dass sich die Autoren an dieses umfangreiche Thema aus dieser Perspektive heranwagen, ist respektabel, denn Voigt und Köhlerschmidt sind keine ausgewiesenen Philosophiehistoriker (Voigt ist nach einem Studium der Kunstgeschichte, Philosophie und Germanistik sowie einer Promotion in theoretischer Psychologie Fachfrau für Ästhetik, Köhlerschmidt ist Wirtschaftsethiker). Nicht immer gelingt ihnen eine angemessene Zuschreibung und Bewertung der Verhältnisse. Allzu klischeehaft ist etwa die Klassifizierung von Mittelalter und Renaissance als „dunkle Zeit“, wo doch in dieser Zeit epistemisch (Wissenstransfer zwischen Orient und Okzident; Grundlegung der Gelehrtenrepublik und der Wissenschaftskultur durch Gründung von Universitäten) und ethisch (verhältnismäßig friedliches Zusammenleben von Angehörigen der christlichen und der islamischen Kultur) einiges auf die Beine gestellt wurde und sehr aktuelle Diskursfiguren (etwa die des „gerechten Krieges“), eine Gestalt erhielten, die bis heute Verhandlungsbasis ist.

Bevor es historisch wird, rechtfertigen die Autoren zunächst die Relevanz ihrer Fragestellung, da „Sex“ üblicherweise nicht unmittelbar mit „Philosophie“ assoziiert wird. Systematisch liegt eine Schwäche in der etwas oberflächlichen Analyse des Schlüsselbegriffs „Liebe“: Zwar wird dessen Vielschichtigkeit erkannt, aber die Ebenen von Agape, Eros und Philia werden nicht erläutert, was in einer Hinführung zum Thema hilfreich gewesen wäre, auch wenn „in unserer jüngeren Vergangenheit so manche Philosophen vehement das Gute am Sex […] ohne Berücksichtigung des Faktors Liebe [thematisieren, J.B.]“. Denn das war ja nicht immer so.

Hochinteressant ist, sich den/die Lieblingsdenker/in herauszusuchen und zu lesen, was sie oder er meinte, das man immer schon über Sex wissen sollte. Dass Immanuel Kant Selbstbefriedigung für verwerflicher hielt als Selbsttötung, dass sich Thomas von Aquin „nicht so lustfeindlich“ über Sex äußert „wie [von den Autoren, J.B.] erwartet“, dass es bei Friedrich Nietzsche eigentlich kaum um Sex geht, da er Lust für „etwas Degeneriertes“ hielt, das beim Mann das Wesentliche – den Willen – überlagere, das sind einige der spannenden Erträge des detail- und kenntnisreichen Abrisses.

Deutlich wird, dass es kaum einen Denker gab, der das Thema gänzlich mied (was angesichts der kantischen Synthesefrage allen Nachdenkens – „Was ist der Mensch?“ – nicht wirklich überrascht). Die Epochen werden ausgewogen behandelt; regionale Schwerpunkte der Betrachtung bilden Deutschland und Frankreich, die britische und angloamerikanische Philosophie kommt erst in der Gegenwart ins Spiel (Thomas Nagel, Judith Butler).

Deutlich wird zudem die Dominanz der männlichen Perspektive: Ein Teilkapitel ist „frühen Feministinnen“ gewidmet (Moderata Fonte und Lucretia Marinella, die in ihren Werken „die Frau zum Meisterwerk der Schöpfung“ stilisierten, sowie Tullia d’Aragona, die als „weiblicher Cicero“ galt), ein kleiner Absatz behandelt Simone de Beauvoir („Das andere Geschlecht“), schließlich kommen zwei zeitgenössische Philosophinnen zu Wort: Judith Butler, die neben dem biologischen „sex“ ein soziales Geschlechtlichkeitsphänomen – „gender“ – ausgemacht haben will, und die daran anknüpfende Jacques Derrida-Schülerin Beatriz Preciado, die mit einer im schlechtesten Sinne „philosophischen“, nämlich komplett wirklichkeitsfernen, „kontrasexuellen Dildologie“ aufwartet, die darin gipfelt, dass der Mann künftig idealerweise „lesbisch“, Sex zur vertraglich geregelten Verrichtung und der Anus dabei zum einzig politisch korrekten Geschlechtsorgan wird, weil er als körperliches Universal nicht-diskriminierend sei; man (und vielleicht auch frau) kann angesichts dessen nur mit dem Kopf schütteln beziehungsweise darüber staunen, was heute so alles als „Philosophie“ durchgeht. Mehr gibt es zum Bedauern der Autoren nicht von Frauen.

Sonst wird in der Ideengeschichte der Wollust hauptsächlich – und auch nicht immer besonders klug – über Frauen geschrieben. Einige prominente Vertreter der Philosophiegeschichte bekommen angesichts ihre verächtlichen Bemerkungen und der mit Nachdruck betriebenen Entwicklung höchst unfreundlicher Bezeichnungen für das Weibliche folgerichtig den Titel „Frauenhasser“, etwa „der entlaufene Dominikanermönch, Schriftsteller und Arbeit suchende Philosoph Giordano Bruno“, der sich unter anderen „Sumpffiber“, „verfinsterte Sonne“ und „gewaltiger Betrug der Natur“ als beredte Synonyme für „Frau“ ausdachte. Ein gerüttelt Maß an Kreativität wird man ihm kaum absprechen können – doch ein Glück für seine Zeitgenossinnen, dass er der Ansicht war, „Sex soll ausschließlich im Kopf des Philosophen stattfinden“.

Im Kopf des Philosophen Peter Sloterdijk laufen indes die Gedanken zum Thema Nr. 1 richtig heiß, wie Voigt und Köhlerschmidt ausführlich darstellen. Der „in den Medien gerne als Aushängeschild der deutschen Philosophie gehandelte“ Sloterdijk rechnet nicht nur die Zahl der Spermien hoch, die er „während seiner aktiven Tätigkeit“ weitergab, er überträgt nicht nur die sexuelle Bittstellerrolle des Mannes, der viel öfter könne als die Frau wolle, ins Metaphysische, indem er, den Mann zum „externen Betrachter einer Welt von Frauengeheimnissen“ mache, er versucht sich auch an einer Ontologie des Busens. Die Tatsache, dass sich beim Betrachten von Frauen in einschlägigen Herrenmagazinen Ideale herausbilden („Idealbrüste“), erfasst Sloterdijk kantianisch: „Diese modernen Geschäftsbrüste existieren, philosophisch gesprochen, nur an sich, als Dinge, nicht für sich, als bewusste Körper.“

Voigt und Köhlerschmidt konstatieren schließlich die Geringschätzung von Frauen und Liebe als Grundkonstanten des philosophischen Diskurses über Sexualität (wobei zwar die Verachtung von Frauen, nicht aber die Verachtung der Liebe eine Männerdomäne ist – in der affirmativen Plastiksex-Rhetorik Beatriz Preciados kommt sie wohl am deutlichsten heraus: „Die Liebe geht, die Liebe kommt, die Sex-Partner kommen und gehen, aber der Dildo ist immer da. Er ist der Überlebende der Liebe.“).

Die Autoren resümieren, dass zwar das Verhältnis von Philosophie und Sex „ein zutiefst problematisches“ sei, doch zeige es sich andererseits als eine „relativ lebendige Beziehung“, die sich dadurch auszeichne, dass die Rationalität des Denkens und die Emotionalität der Lust als sich ergänzende menschliche Fähigkeiten und Bedürfnisse angesehen werden können, so dass Sex und Philosophie für ein gelingendes Leben so zueinander stehen wie blinder Fleck und Augenlicht für das Sehen. Oder – ganz kurz in den Worten der Autoren gesagt: „Beide stimulieren, wenn sie gut sind.“

Titelbild

Stefanie Voigt / Markus Köhlerschmidt: Die philosophische Wollust. Sinnliches von Sokrates bis Sloterdijk.
Primus Verlag, Darmstadt 2011.
192 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783896787217

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