Sündenböcke als Kulturstifter

Die erste systematische Einführung in das Werk des umstrittenen Denkers René Girard hat der Theologe Wolfgang Palaver verfasst

Von Laslo ScholtzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laslo Scholtze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die „mimetische Theorie“ des Kulturanthropologen René Girards knüpft an eine lange und vielfältige geistesgeschichtliche Tradition an, die den Menschen als nachahmendes Wesen begreift. Relativ arm an Instinkten, ist er  konstitutionell auf seine Mitmenschen hin ausgerichtet, in diesem Sinne offen, formbar und höchst lernfähig. Was ihn zum sozialen und kulturellen Geschöpf macht, pflanzt sich nicht in  biologischen, sondern in rituellen und zeichenhaften Strukturen fort.

Bereits Spinoza sah in der Nachahmung den gemeinsamen Ursprung von scheinbar gegensätzlichen Gefühlen wie Empathie und Mitleid einerseits, Neid und Ehrgeiz andererseits, und nahm damit eine zentrale Erkenntnis der „mimetischen Theorie“ vorweg, dass nämlich die menschliche Mimesis nicht nur symbolisches und Handlungswissen betrifft, sondern auch und gerade die menschlichen Affekte. Auch im Hegel’schen Streben nach Anerkennung erhält das mimetische Begehren eine zentrale Bedeutung, da es das spezifisch menschliche Selbstbewusstsein hervorbringt. Alexandre Kojéve schreibt Hegel erläuternd: „Es ist menschlich zu begehren, was die anderen begehren, weil sie es begehren.“

Dieses Begehren, jenseits körperlicher Grundbedürfnisse, ist Girard zufolge entgegen unserer Intuition gerade nicht vom Objekt bestimmt, sondern sozial oder genauer: mimetisch strukturiert. Es ahmt das Begehren der anderen nach. Ob Kleinkinder, verliebte Jünglinge oder um Besitz und Prestige Konkurrierende, stets gilt: Was ein Objekt am wertvollsten erscheinen lässt, ist, wenn es von besonders vielen oder besonders verehrten Vorbildern begehrt wird. Das offensichtliche Dilemma dabei: Ein solcherart vermitteltes Begehren macht jedes Vorbild schnell zum Rivalen.

Ermordete Sündenböcke als kulturstiftende Gottheiten

Girards fundamental-anthropologische Grundthese geht davon aus, dass die sich wechselseitig verstärkende mimetische Rivalität in Hominoiden-Gruppen einer archaischen Frühzeit zwangsläufig eskaliert, immer mehr Teilnehmer in den Gewaltstrudel zieht und die Gruppe in ein blutiges Chaos stürzt. Ein Ausweg aus der kollektiven Selbstzerstörung gelingt nur durch den „Sündenbock-Mechanismus“: Unwillkürlich rotten sich immer mehr und schließlich alle gegen einen Einzelnen zusammen, machen ihn zum Schuldigen für das Chaos und töten ihn.

Die Einmütigkeit gegen einen Gegner, an dem sich die Gewalt entlädt, eint und befriedet die Gruppe. Für das Kollektiv bedeutet dieses Resultat einerseits Bestätigung in der Wahl und Tötung des Opfers, andererseits ehrfurchtsvolles Erschauern vor dessen wundersamer, „heiliger“ Macht über Gewalt und Frieden. „Die Menschen erfinden nicht ihre Götter, sondern divinisieren ihre Opfer“, fasst Girard die Entstehung der archaischen Religionen zusammen, in deren Zentrum das Ritualopfer steht. Dessen kathartische Funktion ist es, die unkontrollierte „böse“ Gewalt durch friedensstiftende „heilige“ Gewalt ersetzt. Der dieser Art umgewertete Lynchmord am Opfer ist Girard zufolge die universelle Konstellation, aus der jegliche kulturellen Systeme hervorgegangen sind. Von den archaischen Mythologien über die antiken Trägödien bis zur Bibel und der Passion Christi – stets sind es, so Girard, Sündenböcke, die kollektiv ermordet und anschließend zur kulturstiftenden Gottheit werden.

Wolfgang Palaver ist Autor von „René Girards mimetische Theorie“, der bislang einzigen deutschsprachigen Einführung in Girards Werk. Auf rund 400 Seiten leistet Palaver darin eine umfassende Darstellung der „drei Grundpfeiler: mimetisches Begehren, Sündenbock-Mechanismus, Mythos versus biblische Offenbarung“. Palavers Vorgehen ist systematisch und gründlich, manchmal fast kleinteilig. Die übersichtliche Struktur trifft sich erfreulicher Weise mit einer einfachen, klaren Sprache; inhaltlich geht es eher in die Breite als in die Tiefe. Über die geistesgeschichtliche Herleitung von Girards Thesen und den Vergleich mit anderen Theoretikern der Kultur und der Mimesis lernt man bei Palaver am meisten.

Zwei suboptimale Alternativen: Gefolgschaft und Pauschalrückweisung

Girard hat sich nie gescheut, die fundamentale Bedeutung seiner Enthüllung dessen, „was vom Anfang der Welt an verborgen war“ (Mt. 13,35) mit Pathos zu vertreten. Zudem stellt er seine Theorie explizit als „kritische Apologie des Christentums“ auf. Letzteres bereitet Wolfgang Palaver, Professor für katholische Theologie, naturgemäß keine Schwierigkeiten. Daran wäre nichts auszusetzen, führte seine grundsätzlich affirmative Haltung nicht zu einem weitgehenden Ausblenden des Umstands, dass Girard in Europa trotz höchster akademischer Weihen (seit 2005 ist er einer der „Immortels“ der Académie française) eine Außenseiterposition einnimmt.

Erst kürzlich bezeichnete es Philippe Descola, Anthropologe und Professor am Collège de France, als ärgerlich und ermüdend, dass sich Girard empirischen Daten gegenüber unzugänglich zeige. Er könne sich nicht erinnern, so Descola gegenüber „Le Monde“, jemals länger als drei Minuten am Stück über Girards Thesen gesprochen zu haben. In einer akademischen Welt, die aus leidenschaftlichen internen Grabenkämpfen normalerweise einen Gutteil ihrer vitalen Energie bezieht, muss dies als veritable Ohrfeige gelten. Auch die Diskussion zwischen Girard und drei prominenten Anthropologen aus dem Jahr 1983 scheint darauf hinzudeuten, dass Girards Theorie – jenseits der Theologie – als wenig anschlussfähig eingestuft wird: zu geschlossen sein System, zu universalistisch sein Anspruch, zu eurozentristisch sein Beharren auf der kulturellen Überlegenheit des Christentums.

Gerade weil Girard anscheinend viel häufiger ignoriert als kritisch zurückgewiesen wird, wäre Palavers Einführung der ideale Ort gewesen, um Gegenpositionen angemessenen Raum zu geben und kritisch-vergleichend mit einzubeziehen. Dann hätte eventuell auch deutlicher werden können, inwieweit es möglich ist, Girards anthropologische Thesen unabhängig von seiner Bibel-Exegese in apologetischer Absicht zu würdigen. Die von Descola wohl zurecht gezogenen Parallelen zwischen Girards Werk und James Frazers „Golden Bough“ sowie Sigmund Freuds kulturtheoretischen Schriften hätten dabei auch eine größere Rolle zu spielen.

Palavers Buch ist als erste systematische Einführung in Girards „mimetische Theorie“ sehr zu begrüßen. Besonders hervorzuheben ist die umfassende und gründliche Ausarbeitung. Der Leser profitiert hier vom Ergebnis langjähriger wissenschaftlicher Arbeit eines Kenners der Materie. Der affirmativ-erläuterndene Ansatz vergibt jedoch weitestgehend die Chance, in der häufig zwischen Gefolgschaft und Pauschalzurückweisung gespaltenen Rezeption kritisch-konstruktiv zu vermitteln. Dabei hätte Palaver gerade in der Auseinandersetzung mit den stärksten Argumenten von Girards Kritikern den Anspruch der „mimetischen Theorie“ erst richtig plausibel machen können.

Titelbild

Wolfgang Palaver: René Girards mimetische Theorie - im Kontext kulturtheoretischer und gesellschaftspolitischer Fragen.
LIT Verlag, Münster 2008.
464 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783825834517

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch