Schreiben gegen ein einseitiges Weltbild

Per Olov Enquists Roman „Die Ausgelieferten“ ist in einer Neuauflage erschienen

Von Volker HeigenmooserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Heigenmooser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bei Klassikern weiß man es – sie sind lange haltbar, manche sehr lange. Ob Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Heinrich von Kleist, Friedrich Hölderlin oder auch Bertolt Brecht oder Max Frisch, sie haben ihre Beständigkeit bereits erwiesen. Bei vielen jüngeren und jüngsten Werken darf man dagegen skeptisch sein, ob sie in zehn, zwanzig oder dreißig Jahren noch gelesen werden. Insofern scheint es ein gewagtes Unterfangen des Hanser Verlags zu sein, einen vor 43 Jahren erstmals erschienenen Text neu herauszubringen, und das auch noch in der alten Übersetzung.

Es handelt sich um den Roman „Die Ausgelieferten“ von Per Olov Enquist, des großen schwedischen Schriftstellers, von dem zuletzt der autobiografische Roman „Ein anderes Leben“ und das Kinderbuch „Großvater und die Schmuggler“ erschienen sind. Enquists Roman „Die Ausgelieferten“ handelt von einem schwedischen Trauma. Dem Trauma, dass dieses liberale, demokratische Land, das sich viel auf seine humane Haltung zugute hält, baltische Soldaten, die in den letzten Kriegstagen 1945 nach Schweden in der Hoffnung auf Asyl geflüchtet waren, 1946 an die Sowjetunion ausgeliefert hat. Das 1968 erstmals in Schweden erschienene Werk hat den damals jungen Autor Enquist mit einem Schlag berühmt gemacht. Denn er hatte nach mehrjährigen Recherchen in seinem dokumentarischen Roman versucht zu verstehen, wie es zu der Auslieferung gekommen ist und wie es den Menschen dabei ging.

Dies ist in einem Maße spannend, dass man dafür gut und gerne mindestens drei der gerade so beliebten Schwedenkrimis ungelesen beiseite legt. Obwohl man ja weiß, dass am Schluss 146 Balten, die in der Waffen-SS für das deutsche nationalsozialistische Reich gedient hatten, von Schweden ins kommunistisch besetzte Baltikum ausgeliefert werden, wird man von dem Hin und Her, von den Hoffnungen und der Verzweiflung der Menschen, von den Auseinandersetzungen in der Regierung, im Parlament und in der Öffentlichkeit gepackt und mitgerissen. Das liegt vor allem daran, dass uns der Erzähler, der im Roman als „der Untersucher“ firmiert, an seinen Recherchen in einer Weise teilhaben lässt, die uns ganz nah an das Geschehen heranführt. Der Untersucher gibt von vornherein als seinen politischen Standpunkt an, dass er Linkssozialist sei. Damit hat er natürlich ein bestimmtes Weltbild, das von einer Zeit des Kalten Kriegs und der antiamerikanischen Vietnamdemonstrationen geprägt ist. Doch weil es dem Erzähler darum geht, wirklich alle Seiten anzuhören und zu betrachten, begreift er, dass von Vorurteilen oder bestimmten politischen Haltungen geprägte Meinungen der Wirklichkeit nicht gerecht werden. Denn, so erkennt der Untersucher und ruft sich damit immer wieder selbst zur Ordnung: „Es sind die Faulen und Unfähigen, die die Welt als Chaos erleben.“

Enquist will alles genau wissen. Zwei Beispiele dafür: Da die baltischen Soldaten als Protest gegen ihre geplante Auslieferung in einen Hungerstreik getreten waren, hungert er selbst, um seine körperlichen Reaktionen mit denen zu vergleichen, von denen 1945 in der Öffentlichkeit berichtet wurde. Er verschließt nicht die Augen vor Tatsachen, die bis dahin nicht in sein linkssozialistisches Weltbild passten, zum Beispiel sein Bild von der Sowjetunion. Er erkennt die Willkürherrschaft der stalinistischen Diktatur, will sich jedoch einer schon in den 1960er-Jahren im Westen gängigen Beurteilung der Sowjetunion als Reich des Bösen nicht unterordnen, sondern genau hinschauen. Er fährt ins Baltikum, um mit den 1946 ausgelieferten Legionären zu reden. Ein schwieriges Unterfangen, das ihm jedoch gelingt. Wobei er sich sofort zweifelnd fragt, ob seine Gesprächspartner nicht doch vom sowjetischen Geheimdienst manipuliert sein könnten. So wie in diesem Fall betrachtet er alle Dokumente, Informationen, Argumente und Meinungsäußerungen mit Skrupeln und Skepsis und ist immer wieder erstaunt über die Wendungen, die der Fall nimmt. Wir als Leserinnen und Leser natürlich auch.

Enquist zeigt uns, dass auch 1968 ein einfaches Links- und Rechtsschema nicht zur Welterklärung taugt. Und politische Fragen eben nicht schematisch beantwortet werden können. Das ist übrigens, neben dem beträchtlichen Spannungsmoment, der wichtigste Ertrag des Buchs. Denn immer wieder kommt er auf eine Erkenntnis, die er so beschreibt: „Politische Vorgänge bestehen nicht nur aus Fakten, aus ideologischen oder ökonomischen Gegebenheiten, sie entstehen auch aus Gefühlen, aus Gefühlen, die aus Situationen erwachsen, aus Situationen, die aus einem Netz menschlicher Verbindungen entstanden sind, einem Spinnennetz, in dem der Mensch schließlich hängenbleibt, zwar nicht hilflos, aber doch gefangen.“

Seit Enquist diesen großartigen dokumentarischen Roman erstmals veröffentlicht hat, sind mehr als 40 Jahre vergangen. Aber er ist seitdem nicht etwa gealtert, weil sich die politische Weltordnung doch ziemlich stark verändert hätte – nein, er hat auf ganz eigene Weise an Aktualität gewonnen. Er zeigt zum einen, wie gerade in den 1960er-Jahren in hohem Maße politische und historische Fragen differenziert behandelt werden konnten. Er zeigt zum andern aber auch, dass Pauschalisierungen und Vereinfachungen nur bestimmten Interessen dienen, aber nicht den betroffenen Menschen. Diesen Roman möchte man deshalb allen Vereinfachern als spannende Pflichtlektüre wärmstens empfehlen.

Die Übersetzung von Hans-Joachim Maass ist laut Verlag überarbeitet. Beide sind gelungen und ohne Tadel. Man hätte zwar gerne gewusst, wer die Überarbeitung vorgenommen hat, doch wenn sie nur marginal war, ist diese Angabe vielleicht entbehrlich. Die anonyme Übersetzung des aktuellen Nachworts hingegen hat nicht die Qualität des Haupttextes, was bei den wenigen Seiten erträglich ist, aber doch verwundert.

Titelbild

Per Olov Enquist: Die Ausgelieferten. Roman.
Aus dem Schwedischen von Hans-Joachim Maass.
Carl Hanser Verlag, München 2011.
475 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783446236325

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