Das ungeheure Versagen einer Gesellschaft

Zeitoun hilft den Überlebenden des Wirbelsturms Katrina und landet dafür in einem improvisierten Guantánamo: Dave Eggers hat seine Geschichte erzählt

Von Christoph BorgansRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christoph Borgans

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vom Journalisten Wolf Schneider ist der Satz überliefert, eine Reportage solle mit einem Erdbeben beginnen und sich dann steigern. Dave Eggers Reportageroman „Zeitoun“ beginnt nicht mit einem Erdbeben, sondern mit der Ruhe vor dem Sturm und steigert sich erst nach der Hälfte der rund 370 Seiten. Dennoch lohnt es sich, dranzubleiben.

Der Sturm ist der Hurrikan Katrina, der 2005 mehrere Tausend Menschen das Leben kostete und den Südosten der USA verwüstete. So auch die Stadt New Orleans, in der Abdulrahman Zeitoun mit seiner Familie wohnt. Der syrischstämmige Amerikaner ist den American Way mit Disziplin und Geduld nach oben marschiert und betreibt mit seiner Frau Kathy eine erfolgreiche Malerfirma. Er ist beliebt bei Nachbarn und Kunden.

Als sich der Hurrikan „wie eine weiße Kreissäge“ der Stadt nähert, fährt Kathy mit den Kindern zu Verwandten. Zeitoun aber bleibt, um seine Häuser und die seiner Kunden soweit wie möglich vor den Sturmschäden zu bewahren. Er ist überzeugt, der Sturm wird überschätzt. Und selbst wenn nicht: In einer fernen Stadt ohne Arbeit hält er es schon im Urlaub kaum aus. Vier Tage später paddelt er mit einem Kanu durch die Vorgärten seiner Nachbarn und schaut, wo er sich nützlich machen kann.

Doch Zeitouns Geschichte, die der Journalist Dave Eggers drei Jahre lang recherchiert hat, ist nicht nur die subjektive Chronik eines der tödlichsten Stürme, die die USA je erlebt haben. Es ist nicht nur das Porträt eines bescheidenen, herzlichen Mannes, der täglich seine Runden durch die Stadt dreht, um die verlassenen Hunde zu füttern und nach Hilfesuchenden Ausschau zu halten. Es ist das Protokoll eines ungeheuren Versagens eines Staates und einer Gesellschaft.

Vom Ausmaß der Verwüstung überrascht, verbreiten die Medien Gerüchte über marodierende Banden. Vergewaltigte Babys will man gesehen haben und Leichen selbst im Superdome – der zentralen Evakuierungsstelle. Präsident Bush vergleicht am Jahrestag des 11. Septembers das Attentat auf die Twin Towers mit dem Sturm und schlussfolgert: „Amerika wird auch diese Prüfung bestehen und umso stärker daraus hervorgehen“. Die Mittel dazu hat er bereits gesandt: Männer und Waffen.

Private Sicherheitsunternehmen wie die aus dem Irak bekannte Firma Blackwater wurden von der Heimatschutzbehörde engagiert, um „für Ordnung zu sorgen“. Dazu kommen Soldaten, Nationalgardisten, Sondereinsatzkommandos der Polizei, Grenzschutzbeamte, FBI-Agenten und Scharfschützen. Alle voneinander unabhängig. Alle bewaffnet. Die Erfahrungen aus Afghanistan und dem Irak in der Erinnerung und aufgepeitscht durch die Medien wähnen sich die ehemaligen Kämpfer in einem Bürgerkrieg.

Während Zeitoun die zurückgebliebenen Bewohner zu retten versucht, errichtet das Militär ein komplettes Gefangenlager des Typs „Guantánamo“ im Greyhound Busbahnhof – eine logistische und organisatorische Meisterleistung in einem Katastrophengebiet. Mehrmals winkt Zeitoun vorbeifahrenden Patrouillen und versucht auf hilfesuchende Bürger aufmerksam zu machen – vergebens. Am 6. September 2005 gelingt schließlich der Kontakt zum Militär – Zeitoun wird verhaftet.

Ein schwer bewaffnetes Einsatzteam befiehlt ihn und einige Bekannte in ruppigem Ton in ein Boot. Zeitoun hält es für die Durchsetzung der Zwangsevakuierung. Auch als sie von der Nationalgarde übernommen werden und man ihnen – das Gesicht in den Schlamm gedrückt – Fesseln anlegt, begreift der naive Musterbürger die Situation noch nicht. Einen der Männer bittet er, sich um die zurückgelassenen Hunde zu kümmern.

Wie Eggers bei seiner Recherche herausfand, verwechselte das Team die Männer mit Plünderern, die in der Nähe gesehen worden waren. Beweise sichert der verhaftende Offizier jedoch nicht und schon als er die Gefangenen der Nationalgarde übergibt, ist nicht mehr klar, warum man sie festgenommen hat. Bei der Befragung und Durchsuchung am Ticketschalter der Greyhound Busstation tauchen bei Zeitouns Begleitern große Geldsummen, Speicherkarten und ein Stadtplan auf. Das scheint verdächtig. Bei Zeitoun reichen die Hautfarbe und der starke nahöstliche Akzent. „Taliban“ knurrt ihn ein Soldat an. Jetzt wird Zeitoun klar, dass „die Frage nach ihrer Schuld oder Unschuld nicht hier an diesem Ort beantwortet werden würde und auch nicht in absehbarer Zeit. Die Polizisten und Soldaten in der Halle waren zu aufgeregt und die Beweislage zu verblüffend“.

Ohne ihre Anklage zu erfahren oder jemanden anrufen zu dürfen, verschwinden sie im Drahtzaungehege des „Camp Greyhound“. Um sie herum Wärter, die Ungehorsam mit Pfefferspray-Folter oder einem Schuss aus der Beanbag-Flinte bestrafen. Das man ihm als Muslim eine Militärration Schweinerippen vorsetzt, ist kaum noch erwähnenswert.

Eggers berichtet über die Ereignisse kühl und wertungsfrei. Doch diese sind so ungeheuerlich, dass sie den Leser auch ohne Kommentar in Rage versetzen. Zeitoun selbst erträgt sie ruhig. Er  sucht den Fehler eher bei sich als im System. Fast scheint es, Eggers habe ihn zu wohlwollend charakterisiert. Doch Fernsehauftritte und Interviews, die Zeitoun seit Bekanntwerden des Buches gegeben hat, bestätigen das Bild des tief-religiösen, hilfsbereiten und bescheidenen Mannes.

Bald gelangen die Männer vom provisorischen Greyhound Camp zum „Elayn Hunt Correctional Center“, dem zweitgrößten Gefängnis in Louisiana. Dort werden sie aber nicht wie normale Gefangene geführt, denn die FEMA (die Koordinierstelle der USA für Katastrophenhilfe) hat lediglich Zellen zur Unterbringung gemietet. Das heißt: Weiterhin keine Telefonate, keine ärztliche Behandlung, keinen Anwalt.

Als Zeitoun die Anstalt endlich doch verlassen darf, können er und Kathy es kaum glauben. „Sie wollten nicht, dass, wer auch immer hierfür verantwortlich war, doch noch seine Meinung änderte. Es hätte sie nicht überrascht. Gar nichts hätte sie überrascht“. Zeitoun, der gutgläubige amerikanischen Musterbürger, hat das Vertrauen in den Staat verloren, in den er 1987 so hoffnungsvoll eingewandert war. Wenn es dem einen oder anderen Leser ebenso ergeht, hat Eggers viel erreicht. Zwar lässt sich kein Einzelner benennen, der durch sein aktives Handeln die alleinige Schuld an Zeitouns Schicksal trägt, aber an vielen Stellen hätten mutige Einzelne die Kette der Ereignisse durchbrechen können. So aber führte die Eigendynamik von Dummheit, Gefühlskälte, Verantwortungsscheu und einer „schwellenden Paranoia“ des 9/11 Amerika zu einer Geschichte, wie man sie in einer westlichen Demokratie nicht erwartet hätte.

Sprachlich ist Eggers Werk durch einige Stilblüten und Phrasen, zumindest in der Übersetzung, etwas holprig. Beispielsweise wenn Kathy „absolut allein“ ist oder sie und Zeitoun „jeden Tag andauernd miteinander“ telefonieren. Das erschwert die Lektüre des ersten Teils, zumal diesem das Schneider’sche Erdbeben fehlt. Doch wer bis zur Festnahme im Boot bleibt, den treibt im zweiten Teil der Ärger Seite um Seite vorwärts. Zeitouns Geschichte rüttelt an den eigenen Illusionen. Und am Ende, wenn New Orleans zum größten Teil wieder aufgebaut ist, liegt das Vertrauen in Rechtstaat und Zivilgesellschaft weitestgehend in Trümmern. Wie nach einem Erdbeben.

Titelbild

Dave Eggers: Zeitoun.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Klaus Timmermann und Ulrike Wasel.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011.
365 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783462042993

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