Intellektualität auf dem Seziertisch

Christian Weber legt eine umfassende Studie zu Max Kommerell vor

Von Clarissa HöschelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Clarissa Höschel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit der vorliegenden Studie erscheint die dritte Publikation des neuen Jahrtausends zu Max Kommerell, jenes früh verstorbenen Schriftstellers, Übersetzers und Germanisten, dessen Briefe und Aufzeichnungen schon 1967 von Inge Jens herausgegeben wurden.

Angesichts der aktuellen, fast 600 Seiten umfassenden Studie fragt man sich zunächst, was dieser vergleichsweise moderne Terminus der ‚intellektuellen Biographie‘ eigentlich genau meint. Eine Biografie ist eine Lebensbeschreibung, die mit dem Adjektiv ‚intellektuell‘ verdichtet wird auf diejenigen Bereiche, die mit dem Intellekt zu tun haben, also das geistig-künstlerische, und deshalb nicht das emotional-private. So gesehen ist es im Grunde keine Biografie, sondern eine chronologisch strukturierte und kommentierte, dabei sicher auch mehr oder weniger subjektiv interpretierte Darstellung eines intellektuellen Werdegangs. Solche intellektuellen Biografien liegen bereits von den verschiedensten Persönlichkeiten vor (unter anderem von Friedrich Nietzsche, George Orwell oder Golo Mann); so unterschiedlich sie auch im Detail sind, was ihnen gemeinsam ist, ist der Anspruch, einen Intellektuellen als solchen darzustellen – die Intensität der Darstellung variiert dabei von ‚vorrangig‘ bis ‚ausschließlich‘. Im Falle der intellektuellen Biografie Kommerells ist das ‚ausschließlich‘ bis zu dem Extrem gediehen, dass tatsächlich nur Kommerells Intellekt ausgeleuchtet wird – die dahinter stehende Aufarbeitung von Quellen verdient Beachtung, das Etikett ‚ Biographie‘ stößt hier allerdings an seine Grenzen – wer es sich mit Kommerell im Lesesessel gemütlich machen möchte, wird enttäuscht werden.

Das Besondere an dem Intellektuellen Kommerell ist seine immer wieder gern zitierte „Doppelbegabung“ – als Wissenschaftler und Schriftsteller steht er zwischen Primär- und Sekundärliteratur, zwischen Urtext und Interpretation und, als Übersetzer, auch zwischen den Philologien. Die sich aus diesen Schlüssel- und Grenzpositionen ergebenden Wechselwirkungen machen ihn zweifellos zu einer singulären Figur in der deutschsprachigen Geisteswissenschaft. Um dieser Sonderstellung gerecht zu werden, folgt der Aufbau der Studie streng thematischen Kriterien: Dargestellt werden jeweils Rezeptionsverhalten und intellektueller Kontext einer bestimmten Zeitspanne der 15 Jahre zwischen Kommerells Promotion (1929) und seinem frühen Tod (1944). Insgesamt sieben Schriftsteller (Jean Paul, Hofmannsthal, Goethe und Kleist, Calderón, Hölderlin und Rilke) bilden die Schwerpunkte der einzelnen Kapitel. Ebenso wichtig wie die Autoren, mit denen sich Kommerell beschäftigt, sind auch seine Freunde und Weggefährten – Philologen (Reinhardt, Otto), Indologen (Zimmer), Romanisten (Curtius, Schalk, Krauss) Theologen (Bultmann) und Philosophen (Heidegger, Gadamer, Ebbinghaus) – sowie die Impulse, die die jeweiligen intellektuellen Diskurse für Wissenschaft und Forschung darstell(t)en.

Kommerells (Schul- und Studien-)Zeit bis zur Promotion und seiner akademischen Karriere sind jeweils eigene Kapitel gewidmet; gerade seine berufliche Laufbahn während des „Dritten Reiches“ macht ihn allerdings zwangsläufig zu einem „Problemfall“, dessen Verdienste für die Literatur- und Geisteswissenschaft und vor allem für die Komparatistik, als deren Begründer Kommerell gilt, mühsam und überaus sorgfältig von ihrem zeitgenössischen Kontext getrennt werden müssen, denn schließlich war Kommerell auch Ordinarius im nationalsozialistischen Deutschland.

Seine Bedeutung für die Germanistik der Nachkriegszeit wird deshalb besonders betont, vor allem im Kontext der Entwicklung hin zur werkimmanenten Interpretation, deren Beginn zu Kriegsende angesetzt wird und vor allem mit Namen wie Emil Staiger oder Benno von Wiese verbunden ist. Versteht man Kommerell auch hier als Vorreiter, wie es die vorliegende Publikation unternimmt, verschiebt sich der Beginn dieser Entwicklung um einige Jahre nach hinten – mitten in die Zeit hinein, von der sie sich so dezidiert distanziert. Inwieweit sich diese Positionierung Kommerells durchsetzen kann, werden erst zukünftige Diskurse zeigen.

Insgesamt versteht sich die Studie als Aufbereitung des umfangreichen Materials und als Grundlage zukünftiger Forschung, für die ein kurzer Ausblick zum Schluss verschiedene weiterführende Fragestellungen formuliert. Damit leistet die Studie insofern Pionierarbeit, als es die erste ist, die sich in diesem Umfang und mit der zugrunde liegenden Quellenarbeit mit dem früh verstorbenen Kommerell auseinandersetzt. Das Ergebnis ist erwartungsgemäß fundiert, gleichzeitig aber auch steril – man wird den Eindruck nicht los, als sei jeder Kommerell’sche Gedanke einzeln auf dem Seziertisch gelandet. Das tut zwar dem Detail gut, dem Ganzen jedoch nicht – anders ausgedrückt: Die Meriten der Studie sind die Schwachstellen der Biografie. Auf einige Schwächen weist der Verfasser denn auch selbst hin: Implizit auf die durch eine (wohl notwendige) Selektion der Primärquellen entstehende subjektive Perspektive und explizit auf die den Lesefluss behindernden zahlreichen und oft (zu) langen Zitate.

Kommerells Schriften seien ‚gegenwärtig kaum präsent‘, so der Autor in seiner Einleitung – angesichts des offensichtlichen Interesses an Kommerell wäre sicher eine Werkausgabe ein primäres Desiderat; eine Studie wie die vorliegende könnte davon ebenso profitieren wie die Forschung allgemein.

Titelbild

Christian Weber: Max Kommerell. Eine intellektuelle Biographie.
De Gruyter, Berlin 2011.
598 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110237528

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