Der Adler ist gelandet

„Andere Wege“: Die Gedichte H.G. Adlers liegen erstmals in einer Gesamtausgabe vor

Von Fabian KettnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Kettner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Der Adler hat mir übrigens seine dichterischen Werke geschickt“, schrieb Hermann Broch am 28. Mai 1949 an Hannah Arendt. „Schlechterdings furchtbar; damit verschone ich Sie, obwohl ich die Manuskripte gerne losgeworden wäre.“ Auf welche Gedichte Broch sich hierbei bezog, ist nicht überliefert. In seinem schmalen Briefwechsel mit Adler hat er sich nie auch nur ähnlich geäußert. Welche auch immer es waren – sein Urteil ist nicht berechtigt. Davon kann man sich nun endlich überzeugen durch die verlegerische Großtat eines bislang weithin unbekannten Kleinverlages. Der tschechisch-österreichische Drava-Verlag hat auf über 1.000 Seiten die erste Gesamtausgabe von H. G. Adlers Gedichten vorgelegt. Viele von ihnen lagen bereits in gedruckter Zyklen-Form vor, mindestens ebenso viele mussten einzeln zusammengesucht werden.

Das poetische Werk liegt nun chronologisch geordnet vor. Die Herausgeber haben die Masse in neun Kapitel unterteilt, für deren Erstellung sie sich an der Vita Adlers orientiert haben. Für einen besseren Zugriff auf die gewaltige Menge wurden im Anhang dankenswerterweise alle Gedichte zunächst in chronologischer und dann in alphabetischer Ordnung aufgeführt. Das chronologische Register informiert über Entstehungs- und Umarbeitungszeitpunkte des jeweiligen Gedichts sowie wo und wann es zuerst erschien.

Die Dichtung spielte im Leben Adlers stets eine sehr große Rolle. Dass er nicht ausschließlich der Verfasser von sozialphilosophischen Werken über ,den Menschen‘ im Zeitalter der „Masse“ war (so in seinen inzwischen weitgehend unbekannten Schriften aus den 1960er- und 1970er-Jahren) sowie von immer noch unüberholten Standardwerken über die Judenverfolgung im Nationalsozialismus („Theresienstadt“, „Der verwaltete Mensch“), das wusste bereits, wer auch Adlers Romane (beispielsweise „Die Wand“ und „Die Reise“) kennt. Sie scheinen auch nicht ganz vergessen. Adlers Roman „Panorama“ beispielsweise wurde im vergangenen Jahr erst von Zsolnay wieder neuaufgelegt. Dass den ,ganzen Adler‘ nicht kennt, wer seine Gedichte nicht kennt, das wird allein durch die quantitativen Relationen zwischen dichterischem und historiografischem Werk deutlich. Die nun vorgelegte Masse sollte einen aber auch nicht dazu verführen, sie überzubewerten. Das die über 1.000 Seiten „die eigentliche Essenz“ respektive „das eigentliche Werk“ seien, wie Michael Krüger, einer der Herausgeber, behauptet, das sei hier nicht nur angezweifelt, sondern mit Nachdruck bestritten.

Doch sieht man Adlers Leben schon ein wenig in anderem Licht, nachdem man mit diesem gewichtigen Klotz Papier konfrontiert ist. Am 2. Juli 1910 in der späteren Tschechoslowakei geboren, hatte er bereits in seiner Jugend Kontakt zu den neuen Strömungen der Prager Literatur. Später studierte er an der Deutschen Universität in Prag Musikwissenschaft, Literatur, Philosophie und Psychologie. Offensichtlich nicht nur nebenbei war er schriftstellerisch und dichterisch tätig. Er bildete einen literarischen Kreis mit Franz Baermann Steiner, dem späteren Musikologen Peter Brömse und Helmut Spiesmayer. Wichtig waren Adler die Klassiker Goethe, Hölderlin und Eichendorff, die Barockdichtung, die volkstümliche und liedhafte Dichtung des 18. und 19. Jahrhunderts, aber auch die Dichtung seiner Gegenwart: Rainer Maria Rilke, Georg Heym, Ernst Stadler, August Stramm, Georg Trakl sowie die mystische Dichtung Alfred Momberts. 1935 promovierte Adler über ,Klopstock und die Musik‘. 1936 begann seine Freundschaft mit Elias Canetti.

Das erste Kapitel von „Andere Wege“ enthält „Gedichte aus der Jugendzeit (1927-32)“, die in sieben Zyklen gruppiert wurden. Adler arbeitete hier mit verschiedenen Aspekten der dichterischen Tradition und widmete sich meist Ortsbeschreibungen von Stadt und Natur. Die Szenerie ist ein wenig melancholisch, gedämpft bis entrückt: „Schmerzlich entsinkt dem Spieler die Flöte“, „Der Bach geht leiser“, „Die Erde tanzt im Sommeratem“ und „Ganz leise träumt der Böhmerwald“ in „Sommerspiel im Böhmerwald“ (1930). Aber in all diesem Stillgestelltem summt gleichsam Verborgenes, das sich hin und wieder äußert. Der „Friede lächelt“ („Herbstabend in der Stadt“ (1927)), „Bedenkreich rauschen Wasserfälle im Monde“ („Mondnacht“ (1930)) und „In Sonne träumt das Wintergebirge“ („Gebirge im Winter“ (1928)).

In den „Frühen Gedichten (1934-40)“ werden in sieben Zyklen vermehrt zeitgeschichtliche Ereignisse aufgegriffen. Es ist die Zeit nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, die Adler zunächst noch aus dem Ausland beobachten kann. Im Zyklus „Gericht“ hält der Dichter in der Tat Gericht über Deutschland und versucht, die Bewegung, die Deutschland sich gewählt hat, dichterisch auszusprechen:

Zu viel Rede geht um mit hohlem Prunk,
Und sie vergöttern sich,
Mästen hochfahrend Seele und Geist
Mit stolzen Berufungen
(„Verwirrung“ (1934))


Einerseits sieht er die Deutschen als Akteure:


Den Schurken umjubeln sie
Und schaffen durch Unrecht
Schrankenlos tierisches Recht dem Argen
(„Abrechnung“ (1934))

Andererseits differenziert er in „Volk in Unterjochung“ (Oktober 1938) zwischen den ,Machthabern‘ auf der einen Seite und den ,Unterjochten‘ auf der anderen. „Leb wohl, verlorne Welt, leb wohl…“ kommentiert er in „Kriegsanfang“ (17.09.1939) den Überfall der Deutschen auf Polen 1939. In zwei der letzten drei Gedichte aus dieser Periode schwelgt Adler in Ewigkeit und Eschatologie.

Und siehe:
Wir leben
Um des Ewigen willen,
Und es erfüllt sich
Am Ende der Zeiten
In ihm,
Dem verwirklichten
Verwirklicher,
In ihm
Am Ende der Zeiten
(„Und siehe: Wir leben“ (Oktober 1939))

Dieses Gedicht ist von Adler selbst mit „Kriegsbeginn 1939“ unterschrieben. Aber auch das „Erwachen 1940“ (08.06.1940) bringt nicht das, was sein Titel verspricht, sondern Schwelgerisches:

Verjüngte Seligkeit, Traum uralter Zeiten:
Nun bist du nahe mir, ich wache auf,
Es glänzt das unerhörte Licht, ich wache auf
Und blicke in die Ewigkeiten.

Umso krasser ist der Unterschied zu den „Gedichten aus der Lagerzeit (1942-45)“. Denn trotz aller Beschwörung von einer Geborgenheit im Ewigen hatte Adler – sehr weltlich – seine Flucht vor den Deutschen nach Südamerika schon vorbereitet. Aber der Einmarsch der Deutschen in Prag im März 1939 schnitt ihm den Fluchtweg ab. Ab August 1941 wurde er zur Zwangsarbeit beim Eisenbahnbau herangezogen. Im Februar 1942 wurde er mit seiner Frau und einigen Verwandten ins KZ Theresienstadt deportiert. Sein Vater wurde bald in Chelmno ermordet, seine Mutter in Trostinetz, seine Frau und deren Mutter in Auschwitz, wo Adler im Oktober 1944 für circa zwei Wochen inhaftiert war, bevor er in ein Nebenlager des KZ Buchenwalds weiterverbracht wurde.

Im relativ berühmten Gedichtzyklus „Theresienstädter Bilderbogen 1942“ ist alles brutal – aber ohne dass jemand brutal aktiv wäre. Adler sagte später im Rückblick, dass er das Verfassen seiner Lager-Gedichte genutzt habe, um sich selber von dem zu distanzieren, was um ihn herum vorging. Dieses Verfahren ist für gewöhnlich bedenklich, weil es die Täter ausblendet – doch gleichzeitig liefert es im Falle von Adlers Gedichten eine der besten poetischen Zustandsbeschreibungen dessen, was das Lager war, eine Atmosphäre allgegenwärtiger Brutalität, Feindseligkeit und Angst:

Gebranntes Leid stockt in der Totenmühle,
Geduckte Leiber dünsten, grell verwühlter Wust
Verquert sich feucht verschmiert in schlimmer Kühle,
Von Feuer schwelend staubig überrußt,

Und irres Kreischen, wahnzerschlißnes Treiben
Zerritzt den scharf gefleckten Tag, in Stück und Bruch
Verkrümeln Hände klamm vor Gitterscheiben,
Und Hunger knister in ein Tränentuch
(„Die Totenmühle“)

Die gesamte Umwelt ist darauf angelegt, Folter zu bereiten, alles ist Gefahr und „geschunden“ wird „mit Bedacht“ („Einzug“):

Das Menschenvieh wird ausgeladen,
Unglimpflich schauert ihm und frostig.
Es kanttern schrille Geräusche in Schwaden,
Eisnebel schlitzen Gedärme rostig.
(„Auf dem Bahnhof“)

In den neun Zyklen, die in der Tat das „Herzstück der Sammlung“ sind (so die Herausgeber), wollte Adler nach retrospektiver Eigenauskunft „zunächst […] vornehmlich unmittelbar Beobachtetes festhalten“. Dies sollte sich aber ändern. „Drei Jahre später, als schon die Nähe der Befreiung […] zu spüren war, hatte ich den Standpunkt des objektiven Beobachters öfters verlassen. Ich wünschte, Zuständliches zu begreifen und Dichtung als Botschaft zu fassen.“

Am 13. April 1945 wurde Adler im KZ Buchenwald befreit. Er kehrte zunächst nach Prag zurück, wo die drei Zyklen „Gedichte aus der Nachkriegszeit (1945-46)“ entstanden. Adler versuchte sich vor allem an der Gestaltung der Darstellung von Gefühlen:

In diesen bleiernen Betrübnissen,
Von Angst der Welt zermatert, Angst der andren –
Eigener Angst – und müde, schäumend müde.
Und früher Abend. Schneelos wird die Mitternacht,
Nicht kalt, nur kühl, so sterbenskühl…
(„In diesen bleiernen Betrübnissen“ (26.12.1945))

Doch die Liebe zu seiner zweiten Frau Bettina ermöglichte ihm auch Liebeslyrik. Das Erleben dieser Gefühle setzte Adler in Beziehung zu dem Verlust, der ihm vorher angetan wurde:

Der Weg ist sanft, und jeder Schritt bewußt
Im Traume noch. Ganz anders in der Welt
Ersprießt Gesang. Hier auf dem Weg keimt Lust,
Viel Spuren leuchten auf vertrautem Feld.
Vertraut steigt sichtbar aus dem Schimmerblust
Die Zukunft aufgeweckt, verheißend hält
Sie treue Wacht. „Nimm hin!“ Frei wird die Brust
Im Sommersegen, froh ihm zugesellt.
(„An Bettina“ (27.12.1945))

1947 emigrierte Adler nach London, wo er 1988 starb. Die „Gedichte aus England“ machen gut zwei Drittel der Gesamtausgabe aus. Die Herausgeber haben sie in fünf Perioden unterteilt. Adler erinnerte die ersten Jahre (1947-52) in der neuen Heimat in der Rückschau als dichterisch produktiv. Die neun Zyklen sind thematisch und formal vielfältig, ihre Sprache ist bildlich und anspielend. Einer der folgenden zehn Zyklen (1952-69) „Zeichen der Zeit“, ist als Denkmal für Franz Baermann Steiner gedacht. Insgesamt verhandelte Adler kleine Episoden und Alltägliches. Die elf Zyklen der Jahre 1970-79 sind oftmals hymnisch und elegisch. Adler widmete sich der Musik, der Kunst und dem Zeitgeschehen. Sein Zugang ist allgemeiner geworden. „Schrecken der Kriege“ (1974) passt auf jeden und keinen Krieg. In „Auf grüner Heid“ (1972) und „Die Heiligen des sanften Gewissens“ (1974) thematisiert er den Umgang der Deutschen mit der NS-Vergangenheit:

Sommer hat nacktlange Beine über
Die Mauer gehängt, Knaben
Pfeifen, spucken Grüße ins Gras
Und scharren den Sand weg.
Händen schütteln Verständnis
Heftig zu, in Büscheln Gesichter
Erröten bis über die Schleifen,
Blume im Knopfloch grell, jeder
Schritt eine Dame


Auf grüner Heid, ahmt schneidig
Verstellung nach, probt
Windlederne Gewißheit, fädelt
Mit Nägeln empfindliche Nähte.

Was für „empfindliche Nähte“ im postfaschistischen Deutschland grob genäht wurden, das musste Adler selber erfahren, als er als Historiker reüssieren wollte. Denn im Gegensatz zu „Theresienstadt“ fiel sein Manuskript von „Der verwaltete Mensch“ beim Münchener Institut für Zeitgeschichte (IfZ) durch. Die „stark subjektive Komponente“ des „sehr persönlich gefärbten Produkts“ ließ das IfZ von einer Veröffentlichung Abstand nehmen. Damals herrschten generelle Vorbehalte gegen Historiker jüdischer Herkunft. Erstens waren ihre Themen besonders begründungspflichtig und zweitens wurden ihre Arbeiten nicht als Wissenschaft betrachtet, sondern im besten Falle als Quellen, so dass sie konsequent aus dem Wissenschaftsdiskurs herausgehalten wurden. Zum dritten galt die Beschäftigung mit der Shoah als partikulär jüdische Perspektive auf den Nationalsozialismus. Und so zeugten die deutschen Historiker unter dem „Pathos der Sachlichkeit“ auf ihre Weise die Volksgemeinschaft fort und nahmen Adler in Sippenhaftung.

Titelbild

Hans G. Adler: Andere Wege. Gesammelte Gedichte.
Herausgegeben von Katrin Kohl und Franz Hocheneder unter Mitwirkung von Jeremy Adler. Mit einem Nachwort von Michael Krüger.
Drava Verlag, Klagenfurt 2010.
1195 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-13: 9783854356257

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