Meisterwerke des Mittelalters

Klaus Böldl hat die „Isländersagas“ in fünf Bänden herausgegeben

Von Volker HeigenmooserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Heigenmooser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ein isländischer Schriftsteller kann nicht leben, ohne beständig über die alten Bücher nachzudenken.“ Das hat der einzige isländische Literaturnobelpreisträger, der große Halldór Kilian Laxness, gesagt. Er selbst hat mit seinem wunderbaren Roman „Die Islandglocke“ den Isländersagas eine moderne Saga zur Seite gestellt. Auch der deutsch-isländische Autor und Übersetzer Kristof Magnusson antwortet in der Süddeutschen Zeitung vom 8. August 2011 auf die Frage, wie präsent die alten Sagas in Island seien: „Die kennt wirklich jedes Kind. Es gibt Comics von allen großen Sagahelden und die Alltagskultur ist durchdrungen davon.“ Nun kann man sich auch in Deutschland ein gutes Bild von diesen Sagas machen. Denn in einer dickleibigen vierbändigen Ausgabe sind im S. Fischer-Verlag die Isländersagas in neuen Übersetzungen erschienen.

Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass die Isländersagas nur ein Teil der gesamten Sagaliteratur darstellen. Denn daneben gibt es die „Konungasögur“ (Königssagas), „Fornaldarsögur“ (Frühgeschichtssagas), „Byskupasögur“ (Bischofssagas) und die „Sturlunga saga“. Kurt Schier, der Nestor der gegenwärtigen deutschsprachigen Altnordistik charakterisiert die Isländersagas folgendermaßen: „Als Kunstwerke übertreffen die Isländersagas die übrigen Gruppen von Sagas bei weitem, wenn man von einigen „Konungasögur“ absieht; sie gehören zu den bedeutendsten literarischen Leistungen Europas im Mittelalter und heben sich so stark von anderen mittelalterlichen Prosagattungen ab.“

In der Tat sind die Isländersagas bemerkenswerte Literatur, die auch heute noch spannend ist. Daneben haben die Isländersagas seit langer Zeit die Gemüter der Forscher bewegt. Die Frage war und ist im Grunde bis heute: Wie konnte es kommen, dass in der fernen, im Atlantik gelegenen Insel im Mittelalter eine derartige Literatur in der Volkssprache entstand? Wenn man ehrlich ist, wird man zugeben müssen, dass man darüber fast nichts weiß. Was als in diesem Zusammenhang gerne als Wissen kolportiert wird, sind in Wahrheit meist Spekulationen, Annahmen, Thesen und Hypothesen.

Dennoch oder gerade deshalb haben sich Wissenschaftler entzweit und befehdet über die Frage, ob die sogenannte Freiprosatheorie oder die Buchprosatheorie die Entstehung der Isländersagas erklärt. Die Freiprosatheorie meint, dass die Sagas nahezu wörtlich über Jahrhunderte mündlich überliefert worden und dann im 13. Jahrhundert getreulich nach dieser Überlieferung aufgeschrieben worden seien. Die Buchprosatheorie geht zwar auch von einer mündlichen Überlieferung vieler Einzelteile und Versatzstücke aus, ist jedoch der Meinung, dass die Sagas erst im 13. Jahrhundert von anonymen Schreibern in ihre heute bekannte Form gegossen wurden. Wie dem auch sei, bedeutsam ist, wie Mitherausgeberin Julia Zernack im Begleitband schreibt: „Anders als die meisten Völker mussten sich die Isländer eine nationale Ursprungslegende im 19. Jahrhundert nicht mehr eigens konstruieren. Für sie war der Ursprung ihrer nationalen Geschichte bereits seit dem Mittelalter greifbar, eingespannt in eine historische Meistererzählung, nach der es jene ersten Jahrhunderte staatlicher Unabhängigkeit nach der Besiedlung der Insel waren, in denen aus einer Anzahl von Einwanderern und ihren Nachkommen die isländische Gesellschaft wurde.“

Diese Meistererzählungen haben über Island hinaus fasziniert, nicht zuletzt im deutschsprachigen Raum. Ab 1911 wurde von deutschsprachigen Altgermanisten in der Sammlung Thule dieser altisländische Schatz gesammelt und übersetzt und als eine Art gemeingermanisches Erbe begriffen. Obwohl die Thule-Übersetzungen auf eigenartige und zum Teil unangenehme Weise deutschtümeln, was sich die Nationalsozialisten leicht anverwandelten, hat es erst spät nach 1945 mehrere Versuche gegeben, die Isländersagas neu und zeitgemäß zu übersetzen. Diese Versuche scheiterten bislang insofern, als es nicht gelang, alle Isländersagas neu und qualifiziert zu übersetzen. Der Frankfurter Buchmesse, die dieses Jahr Island als Gastland ausgewählt hat, ist zu verdanken, dass diese Mammutaufgabe nun neu angepackt und zu einem glücklichen Ende gebracht werden konnte. Endlich ist die Saga von Egill Skalla-Grímson, diesem hässlichen Gewaltmenschen und hervorragenden Skalden, diesem außergewöhnlichen Dichter und Bauern in der guten Übersetzung von Kurt Schier zu lesen, versehen mit sachkundigen Kommentaren am Ende des Bands. Nun kann man von Gísli Súrsson in der von Kurt Schier überarbeiteten Übersetzung von Ulrike Strerath-Bolz lesen, der fast sein ganzes Leben als Geächteter, also als aus der isländischen Gesellschaft Ausgeschlossener fristen musste. Oder man kann sich in die Laxdœla Saga in der Übersetzung Karl-Ludwig Wetzigs vertiefen, die die Geschichte von fast zweihundert Jahren umfasst und unzählige Namen auflistet, deren Kern jedoch eine Dreiecksbeziehung bildet, die auch heute noch mit ihrem tragischen Ausgang rührt. Keine der großen Isländersagas fehlt in dieser Ausgabe. Darüber hinaus enthält sie viele ættir, eher kurze geschlossene Erzählungen, die sich in der Regel auf eine Person konzentrieren. „Dokumentarromane im alten Norden“ hat der Literaturhistoriker Heinz Barüske die Isländer Sagas einmal genannt und sie damit gut charakterisiert. Sie sind spannende Erzählungen, die zumindest darstellen, wie das Leben in der Frühgeschichte der kargen Insel im Norden hätte gewesen sein können. Wie jede gute Literatur enthalten die Sagas damit wohl oft mehr Wahrheit als klassische historische Werke.

Dass die Isländersagas nun in gutem Deutsch nachzulesen sind, kann man nicht genug rühmen. Denn diese Ausgabe ist eine großartige Leistung. Da als Herausgeber Wissenschaftler verantwortlich zeichnen, kann es gar nicht anders sein, dass sie zwar ihren wissenschaftlichen Anspruch durchsetzen wollten. Man kann geradezu nachfühlen, wie zwischen dem wissenschaftlichen Anspruch und dem Anspruch des Verlags, die Sagas in einer gut lesbaren Form dem breiten Publikum zugänglich zu machen, gerungen wurde. Der Kompromiss aber, der gefunden wurde, ist in jeder Hinsicht sehr gut gelungen. Knappe und konzentrierte Einleitungen führen in die jeweiligen Sagas beziehungsweise ættir ein. Die Erläuterungen werden nicht in Fußnoten gesteckt, was den Lesefluss hindern würde, sondern in einen Anhang am Ende des jeweiligen Bands, gut erreichbar dank der zwei Lesebändchen.

Zwei Kleinigkeiten sind an dieser großartigen Ausgabe aber doch zu monieren: im Inhaltsverzeichnis wäre ein Hinweis auf die rühmenswerten Übersetzerinnen und Übersetzer angemessen gewesen ebenso wie eine kurze biobibliografische Vorstellung. Soviel Respekt hätte schon sein dürfen. Als zweite Kleinigkeit muss kritisch angemerkt werden, dass ein Gesamtüberblick des Inhalts der vier Bände fehlt. Er wäre sinnvoll im klug gemachten Ergänzungsband untergebracht worden, der über die Entstehungsgeschichte der Isländersagas und das mittelalterliche Island kundig informiert, komplettiert durch die Übersetzung von Ari þorgilssons „Isländerbuch“ sowie Auszügen aus dem „Buch der Landnahmen“. Doch abgesehen von diesen Kleinigkeiten ist mit dieser Ausgabe der Isländersagas ein Werk gelungen, das eine der spannendsten Literaturen des Mittelalters hervorragend lesbar einem interessierten Publikum zugänglich macht.

Titelbild

Klaus Böldl (Hg.): Isländersagas.
5 Bände im Schuber.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2011.
2676 Seiten, 120,00 EUR.
ISBN-13: 9783100076298

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