Der Todesengel von Soreni

Michela Murgia beschreibt in ihrem Roman „Accabadora“ die besondere Beziehung zwischen einem jungen Mädchen und einer alten Frau

Von Antonia FéretRSS-Newsfeed neuer Artikel von Antonia Féret

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Maria Listru ist ein fill’e anima, ein Seelenkind. Sie ist sechs Jahre alt und ihrer Mutter, deren ungewolltes, viertes Kind sie ist, eine ständige Last. Deswegen adoptiert die alte Bonaria Urrai das Mädchen und nimmt sie bei sich auf. Doch sie bewahrt ein Geheimnis, das jeder in ihrem Heimatdorf kennt – außer Maria.

Die Geschichte beginnt in dem kleinen Dorf Soreni in Sardinien während der 1950er-Jahre. Die Schneiderin Bonaria Urrai ist ein angesehenes Mitglied ihrer Gemeinde, sie ist wohlhabend, kinderlos und Witwe. Sie nimmt die kleine Maria aus Zuneigung auf, eine informelle Art der Adoption, die in Sardinien seit langem verbreitet ist. Maria ist intelligent, doch es fällt ihr schwer, sich in die besseren Verhältnisse einzuleben. Besser heißt: Sie hat ein eigenes Bett, ein eigenes Zimmer und ihr wird zum ersten Mal in ihrem Leben Aufmerksamkeit geschenkt. Bonaria ermöglicht ihr, eine Schule länger als nur über die Grundschulzeit zu besuchen, und sie verlangt Bestleistungen von ihrer Adoptivtochter.

So behütet wächst Maria zu einem gebildeten, selbstbewussten Mädchen heran und entwickelt eine starke Bindung an ihre neue Mutter, die sie Tzia, Tante, nennt. Je älter sie wird, desto öfter jedoch fällt ihr auf, dass Bonaria sich merkwürdig verhält. Mitten in der Nacht bekommt sie Besuch und verschwindet daraufhin für mehrere Stunden.

Der Leser wird nicht lange im Unklaren darüber gelassen, was es mit Bonarias nächtlichen Ausflügen auf sich hat: Sie ist eine Accabadora, eine Frau, die leidenden Sterbenden, für die es keine Hoffnung mehr gibt, zum Tod verhilft – mit Einverständnis der Familie. Ihre Tätigkeit ist von den Familien Sorenis anerkannt und geschätzt, nicht aber von Maria, die Bonaria nach dem Tod des Bruders ihres besten Freundes verlässt. In Turin tritt sie eine Stelle als Kindermädchen an, verliebt sich in den Sohn des Hausherren – und muss doch wieder nach Sardinien zurückkehren, wo die sterbende Bonaria auf sie wartet, um eine schwere Entscheidung von ihr zu fordern.

Michela Murgia hat mit „Accabadora“ ihr Debüt vorgelegt. Ihre Schilderung sardischer Traditionen und Bräuche ist überzeugend. Sie liefert einen interessanten Einblick in eine vergangene Zeit und die nicht nur für viele Italiener unbekannte Kultur Sardiniens. Doch im Mittelpunkt stehen klar Marias Erwachsenwerden und ihre Beziehung zu der alten Frau, die sie adoptierte.

Erzählt wird das Geschehen aus den Perspektiven beider Frauen, was häufig philosophisch anmutende Aussagen zustande bringt. Da kann man die Unsicherheit, die hier und da in gewissen Gesprächssituationen bei den Figuren anklingt, und die für ein Erstlingswerk kaum überrascht, bedenkenlos übersehen. Murgias Stil ist sanft und einfühlsam, manchmal mit einem Anflug ironischen Humors und durchgehend angenehm zu lesen. Dazu trägt nicht zuletzt die feinfühlige Übersetzung bei, die Murgias Worte im Deutschen zu poetischer Prosa geformt hat.

Die emotionaleren Szenen hätten wohl etwas dramatischer geraten können, als sie im Buch dargestellt wurden. Doch der unaufgeregte Ton reiht sich gut in Murgias gemessene Sprache ein, mit der sie es trotzdem schafft, auch alltägliche Situationen spannend zu erzählen.

Insgesamt ist Michela Murgia also eine runde Sache geglückt, die mit einem Glossar sardischer Begriffe zum besseren Verständnis abschließt. Hier könnte man kritisch anmerken, dass dieses Glossar bei Weitem nicht alle Fragen aufwerfenden Begriffe enthält und hauptsächlich aus der Aufzählung von Backwaren besteht – aber das ist nur ein kleiner Schönheitsfehler, und selbst ein unvollständiges Glossar ist für einen des Sardischen nicht mächtigen Leser hilfreicher als keines.

So bleibt als Schlusswort nur dies: „Accabadora“ ist ein feines kleines Büchlein, das als erster Roman der Autorin durchweg überzeugt.

Titelbild

Michela Murgia: Accabadora. Roman.
Übersetzt aus dem Italienischen von Julika Brandestini.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2010.
173 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783803132260

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